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In seinem Gerichtsdrama nach einer wahren Begebenheit seziert Christian Frosch das Österreich der Nachkriegszeit als Ort des Verdrängens und des nach wie vor manifesten Antisemitismus. Die Verbindungen in die politische Gegenwart sind dabei mehr als evident.

Murer - Anatomie eines Prozesses (2018)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Austria in a nutshell

Christian Froschs Gerichtsdrama beginnt so, als wolle der Regisseur dem Publikum verdeutlichen, dass er es vor allem mit der im Titel erwähnte Anatomie ernst meint: Schnell Schnitte und Reißschwenks sezieren die Bühne des Geschehens, springen im Saal des Grazer Gerichts des Jahres 1963 wild hin und her, fokussieren mal auf die Geschworenen, dann auf die Besitzer, den Staatsanwalt und den Verteidiger sowie auf das zahlreich versammelte Publikum.

Schnell, beinahe hektisch, als gälte es, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu erfassen, bevor das Drama seinen Gang nimmt. Es ist eine ungewöhnliche Art und Weise der filmischen Exposition: dicht gedrängt, fragmentarisierend, umherschweifend, fast ein wenig zerstreut — die Kamera gleicht einer Taube, die rasch die einzelnen Krumen aufpickt, bevor sie wieder verscheucht wird von einem ungnädigen Passanten. Und vielleicht passt diese Haltung ja zu jener des Regisseurs, der seinen Film über die nicht aufgearbeitete und nicht juristisch geahndete Schuld eines österreichischen Kriegsverbrechers mitten hineinpflanzt in eine Zeit, in der das Hinschauen, das Aufarbeiten, das Bewältigen gerne getilgt werden würde. In einer Zeit, in der es in Österreich Rechtspopulisten und deutschnationale Burschenschaftler in die Regierungsverantwortung geschafft haben.

Franz Murer (Karl Fischer), dem hier im Film der historisch verbürgte Prozess gemacht wird, war ein Grazer Großbauer und viel geachteter Lokalpolitiker — und er war der „Schlächter von Vilnius“, der als Stellvertreter des Gebietskommissars von 1941 bis 1943 zuständig für jüdische Angelegenheiten war. Unter seiner Schreckensherrschaft wurde die jüdische Bevölkerung von Vilnius, das einst als „Jerusalem des Nordens“ bekannt war, von 80.000 auf 600 Menschen dezimiert.  Und doch — und genau davon erzählt der Film, blieben diese Verbrechen und auch die Taten, die Murer unmittelbar zugeordnet werden konnten, ungesühnt, das Verfahren endete aus Mangel an Beweisen mit einem Freispruch. 

Obwohl der Angeklagte fast nie spricht in diesem Film, sondern immer noch wie ein bei einem Streich erwischter Pennäler dreinschaut (erst zum Schluss zeigt er sein wahres, sein triumphierendes Gesicht), besteht für den Zuschauer angesichts der Zeugen, die gegen ihn aussagen, nie ein Zweifel, dass Murer tatsächlich jenes sadistische Monster ist, als das ihn die Überlebenden schildern. Als er sich vor dem Auftritt vor Gericht in seinen feinsten Anzug schmeißt, rät ihm sein Anwalt davon ab und schlägt stattdessen vor, dass Murer doch seinen alten, abgetragenen Trachtenjanker vor Gericht tragen solle: „Eine abgewetzte Tracht, das ist Arbeit, das ist Heimat. Sie dürfen nur eines nicht: aus der Rolle fallen.“ Und diese Rolle des einfachen Großbauern, des treu sorgenden Familienvaters, des unbescholtenen Kriegsheimkehrers gilt es in jedem Fall zu wahren.

Also unterwirft sich Murer dem Wunsch seines Verteidigers, schlüpft in die Joppe und schweigt, während andere für ihn die Drecksarbeit erledigen — sein Anwalt, dessen Fragen die Zeugen einschüchtern und verwirren sollen, die von der Verteidigung einbestellten Zeugen, deren Einlassungen wie auswendig gelernt wirken und dies wohl auch sind. Die größtenteils selbst national gesinnten Geschworenen und schließlich sogar die Politik, die von Wien aus Einfluss auf den Verlauf und den Ausgang des Prozesses nimmt. 

Manchmal ist Murer — Anatomie eines Prozesses vielleicht ein wenig zu theatralisch geraten, insbesondere die Geschworenen sind in ihrer Zusammensetzung derart skurril, dass man eher geneigt ist, an Karikaturen des Ländlich-Zurückgebliebenen zu denken als an „echte Menschen“.  Und als sei sich Christian Frosch dessen bewusst, unternimmt er immer wieder den Versuch, interessante Perspektiven einzubauen — wann sah man je in einem Gerichtsdrama eine Einstellung in der Vogelperspektive? Anderseits gibt es immer wieder Szenen, die unter die Haut gehen — und es sind vor allem die Zeugenaussagen, in denen Frosch das Theaterhafte zugunsten des Filmischen aufgibt und den Gesichtern des Schmerzes und der Verzweiflung so nahe rückt, dass man es als Zuschauer kaum auszuhalten vermag. 

Unterm Strich gelingt es dem Film überzeugend, ein unrühmliches Kapitel der österreichischen Nachkriegsjustiz nachzuzeichnen und dabei zugleich Verbindungslinien in die Gegenwart des Landes zumindest anzudeuten, ohne diese dem Zuschauer aufzudrängen. Angesichts der derzeitigen politischen Lage im Land ist es ein Leichtes, diese Fäden aus der Gegenwart selbst aufzugreifen und weiterzuspinnen.

Murer - Anatomie eines Prozesses (2018)

Graz 1963. Wegen Kriegsverbrechen steht der angesehene Lokalpolitiker und Großbauer Franz Murer, 1941-43 für das Ghetto von Vilnius verantwortlich, vor Gericht. Überlebende des Massenmordes reisen an, um auszusagen und Gerechtigkeit zu erwirken. Basierend auf den originalen Gerichtsprotokollen wird von einem der größten Justizskandale der Zweiten Republik erzählt — und von politischer Strategie jenseits moralischer Werte.

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Meinungen

Sonja Otte · 25.11.2018

Ich habe den Film im Februar in Österreich gesehen u. fand ihn herausragend.