Kind 44 (2015)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Mörder im Paradies

Am Anfang von Kind 44 ist ein großes, verfallenes Haus in einer verschneiten Landschaft zu sehen. Es ist Winter in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre, einer Zeit, in der die Sowjetunion die Bevölkerung systematisch aushungern lässt („Holodomor“, auf deutsch „Tötung durch Hunger“ lautet der Terminus, den Historiker dieser Untat gegeben haben). Ein Junge lebt in dem verlassenen Haus. Um ihn sind andere Kinder, die ebenso ausgehungert erscheinen wie er und sich fast wie wilde Tiere benehmen. Er schleicht sich davon, flieht in die winterliche Landschaft und findet Hilfe bei einem russischen Soldaten. Der Junge will nicht mehr der sein, der er ist, also gibt ihm der Mann einen neuen Namen.

Über zehn Jahre später ist Leo Demidow (Tom Hardy) selbst russischer Soldat und wird bei der Eroberung des Reichstags zum Held. Weil sein Kamerad Alexej (Fares Fares) die gestohlenen Armbanduhren der Toten nicht ablegen wird, nimmt Leo die sowjetische Fahne in die Hand und posiert für ein Foto, das ihn auf der Kuppel des Reichstags zeigt und zum Symbol des russischen Erfolgs im Zweiten Weltkrieg wird. Dann folgt in Daniel Espinosas Verfilmung von Tom Rob Smiths Bestseller ein weiterer Zeitsprung. Im Jahr 1953 ist Leo MGB-Offizier, verheiratet mit der schönen Raisa (Noomi Rapace) und genießt die Annehmlichkeiten, die das Leben in der Sowjetunion für einen Opportunisten wie ihn bereithält. Stets neidisch beäugt von seinem Kollegen Vasili (Joel Kinnaman) ist es seine Aufgabe, politische Verdächtige zu verhaften – ob sie schuldig ist, interessiert ihn nicht, er führt Befehle aus. Dann erhält er von seinem Vorgesetzen Major Kuzmin (Vincent Cassel) den Auftrag, seinen Freund und Getreuen Alexej davon zu überzeugen, dass dessen Sohn bei einem Zugunfall ums Leben gekommen ist, obwohl die Leiche unbekleidet und mit entferntem Magen gefunden wurde. Im Paradies gibt es keine Mörder, deshalb könnte es für Alexej und seine Familie gefährlich sein, wenn sie darauf beharren, dass ihr Sohn ermordet wurde. Dies wäre ein Akt der Illoyalität — und die ist in der Sowjetunion jener Zeit tödlich. Leo führt den Auftrag aus, zweifelt indes das erste Mal an seinem Tun und an der offiziellen Version. Also ordnet er weitere Untersuchungen an – und daraufhin gerät seine Frau unter den Verdacht, eine Spionin zu sein. Dadurch gerät Leo in ein Dilemma: Kuzmin beauftragt ihn, dem Verdacht gegen seine Frau nachzugehen. Welches Ergebnis er erwartet, steht zu keinem Zeitpunkt außer Frage. Liefert Leo seine Frau aus, muss er mit seinem schlechten Gewissen leben. Entlastet er sie, könnte es für ihn, seine Eltern und seine Ehefrau den Tod bedeuten.

Dieses Dilemma ist eine spannende Ausgangssituation für einen Thriller, jedoch verliert sich das Drehbuch von Richard Price (The Wire) in den Handlungssträngen um die Liebesgeschichte, die Suche nach einem Serienmörder und den politischen Ränkespielen. Sie laufen nebeneinander her, so dass vieles nur angerissen, aber kaum etwas erzählt wird. Auch Daniel Espinosa steuert mit seiner Regie diesem Nebeneinander kaum entgegen, vielmehr inszeniert er altbackene Bilder von der Sowjetunion, die ganz den westlichen Vorstellungen der damaligen Zeit entsprechen. Dagegen ist das Buch von Tom Rob Smith härter, dreckiger und differenzierter, im Film fehlen insbesondere die couragierten Handlungen der ganz normalen Menschen in Sowjetrussland.

Jedoch hätte hier eine Stärke des Films liegen können. Denn vor allem mit Hilfe von Noomi Rapace als Raisa und Gary Oldman als Leos späterem Vorgesetzten lässt sich erzählen, welche Folgen das systematische Misstrauen hat, das unter Stalin den Alltag beherrscht. Im Buch erscheinen deshalb manche hilfreiche Taten umso erstaunlicher, wenn aber Espinosa die Wahl zwischen Zivilcourage und einer Actioneinlage hat, entscheidet er sich stets für letzteres. Auch am Beispiel von Vassili – schön schmierig von Joel Kinneman gespielt – hätte erzählt werden können, wie durch systematische Denunziation Karrieren befeuert und zerstört wurden, doch hier legt das Drehbuch nahe, Vassili sei ein Feigling, der im Krieg versagte und nun neidisch auf das Leben des Helden ist. Er will seinen Posten, seine Wohnung und seine Frau. Woher dieser Neid kommt und wie er das System nutzt, bleibt im Dunkeln, vielmehr wird er möglichst unsympathisch gezeigt. Zeit für Differenzierung bleibt trotz einer Lauflänge des Films von über zwei Stunden kaum. Das ist angesichts des Produktionsaufwands und des Könnens aller Beteiligten schade.

Letztlich erfolgt dann auch die Auflösung der Krimihandlung recht plötzlich und unvermittelt. Lange lief dieser Strang nebenher, der Täter ist früh bekannt. Der Hintergrund seiner Taten unterscheidet sich zwar vom Buch, wird aber niemals ganz aufgeklärt. Kurz wird hier noch eine Art Selbst-Waterboarding angedeutet, dann ist die Sache auch schon fast vorbei. Das eigentlich Schockierende gerät dabei in den Hintergrund: Ein Mann konnte über 40 Kinder töten und wurde dabei vom Staat gedeckt, weil es im Paradies der Arbeiterklasse solche monströsen Taten nicht geben konnte, nicht geben durfte. Dabei handelt es sich keineswegs um reine Fiktion, vielmehr basiert die Geschichte lose auf den Taten des ukrainischen Serienkillers Andrei Tschikatilo, der bis in die 1980er Jahre unzählige Menschen ermordete. Ihm konnten insgesamt 53 Morde nachgewiesen werden. Und ähnlich wie im Film wurden auch hier die Ermittlungen dadurch behindert, dass solche bestialischen Taten in der UdSSR nicht in das Selbstbild des Staates passten.

Insgesamt gibt es viele spannende Ansätze in Kind 44, jedoch mangelt es letztlich der Inszenierung und dem Drehbuch an Stringenz. Dagegen können auch die guten Schauspieler nur wenig ausrichten. Dass das Ende allzu glücklich und klebrig ist, fällt da dann kaum noch ins Gewicht.
 

Kind 44 (2015)

Am Anfang von „Kind 44“ ist ein großes, verfallenes Haus in einer verschneiten Landschaft zu sehen. Es ist Winter in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre, einer Zeit, in der die Sowjetunion die Bevölkerung systematisch aushungern lässt („Holodomor“, auf deutsch „Tötung durch Hunger“ lautet der Terminus, den Historiker dieser Untat gegeben haben). Ein Junge lebt in dem verlassenen Haus. Um ihn sind andere Kinder, die ebenso ausgehungert erscheinen wie er und sich fast wie wilde Tiere benehmen.

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Meinungen

Christian · 20.05.2015

Ich empfand den Film gestern in der Sneak Preview als sehr langezogen und teilweise langweilig. Grundsätzlich aber solide gedreht.