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Roman Polanskis neuer Film „J’accuse“ hat in Venedig vor der Premiere für viel Wirbel gesorgt. Dabei ist der Film aktueller den je.

Intrige (2019)

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Kein Film war beim Filmfestival Venedig so skandalumwittert wie Roman Polanskis „J’accuse“. Es gab vorab viel Kritik, ausgerechnet ihn, gegen den in den USA noch immer ein Verfahren aus den 1970ern Jahren wegen Sex mit einer Minderjährigen offen ist, überhaupt zum Festival einzuladen — und dann auch noch in den Wettbewerb. Es gab eine Debatte zwischen Festivaldirektor Alberto Barbera, der dafür plädierte, Künstler und Werk getrennt zu betrachten, und der diesjährigen Jurypräsidentin Lucrecia Martel, die sagte, sie könne beides nicht voneinander trennen, finde den Fall Polanski jedoch schwer zu beurteilen, immerhin habe das Opfer sich mit der Entschädigungszahlung 1988 zufrieden gegeben und öffentlich darum gebeten, den Fall endlich ruhen zu lassen.

Warum man diese ganze Debatte kennen muss, wenn man über den Film spricht? Weil es nur zu einfach wäre, in der von Polanski verfilmten Geschichte eine platte Parabel auf seine eigene Erfahrung mit der Justiz zu sehen. Das ist sie nicht, schon weil Polanski nicht so irre ist, sich selbst, der sich zu seiner Tat schuldig bekannt hat, mit einem unschuldig verfolgten jüdischen Offizier gleichzusetzen. 

Was er hier erzählt, ist vielmehr ein Kommentar auf aktuelle antisemitische Ressentiments, wie sie derzeit in ganz Europa beobachtet werden können. Polanski konzentriert sich dabei nicht auf das Opfer, sondern macht aus der Geschichte über die Dreyfus-Affäre einen Kriminal- und Spionagefilm, der um Fragen nach Moral und Gerechtigkeit kreist. Die Hauptfigur ist Georges Picquart (Jean Dujardin), ein aufstrebender junger Ausbilder in der französischen Armee, der zwar die antisemitische Grundhaltung seiner Umgebung am Ende des 19. Jahrhunderts teilt, der aber einen höheren Hang zu Wahrheit und Fakten hat, hinter den er Gefühle und Glauben zurückstellt. Als er in seiner Funktion als Leiter der Inlandsspionageabteilung über neue Hinweise stolpert, die nahelegen, dass mit Dreyfus (Louis Garrel mit einem Kurzhaarschnitt, unter dem man ihn erst auf den dritten Blick erkennt) ein Unschuldiger auf die Teufelsinsel verbannt wurde, beginnt er den Fall neu aufzurollen. Er sucht den wahren Landesverräter in den Reihen der Armee, trägt Beweise, Fotos, Briefe zusammen und muss dabei immer wieder gegen den Widerstand seiner eigenen Vorgesetzten weitermachen. 

Polanski hat das Drehbuch gemeinsam mit Robert Harris geschrieben. Beide haben bereits für The Ghostwriter zusammengearbeitet. Für dieses Drehbuch nun recherchierte Harris so viele historische Details, dass er zunächst einen Roman aus der Geschichte machte (An Officer and a Spy, 2013) und diesen dann zum Drehbuch für J’accuse umarbeitete. Aus seinen Recherchen speisen sich die ermittlungstechnischen Details wie die Verwendung von Kodakfotoapparaten für die Überwachungsaufnahmen von Verdächtigen, die Kommunikation über die ersten Telefone und andere für die damalige Zeit moderne Abhörmethoden. 

Polanski verwebt all das zu einem Thriller im historischen Gewand, dessen wohltemperierte Bilder brillant fotografiert sind. Politisch aktuell wird er, wenn Emile Zola seinen Titelgebenden offenen Brief „J’accuse“ publiziert und der Antisemitismus in der Bevölkerung offen ausbricht. Da werden die Bücher des Literaten öffentlich verbrannt, da werden Judensterne an Geschäfte geschmiert und Scheiben eingeworfen. Die Wut auf das Unbekannte, das Fremde, das Andere gab es schon immer. Zur Zeit der Dreyfus-Affäre stand Frankreich kurz vor einem Bürgerkrieg. Dass er letztlich nicht ausbrach, ja dass am Ende der unschuldig angeklagte jüdische Offizier zurückgeholt, repatriiert und sogar wieder in die Armee aufgenommen wird, zeigt dass die Trennung der Machtstrukturen in Frankreich funktionierte, dass eine unabhängige Justiz allein aufgrund von Fakten entschied und dass eine unabhängige, freie Presse  Korruption und Ressentiments öffentlich machte. J’accuse zeigt, wie viel sich seitdem geändert hat und wie viel auch heute noch gleich ist. Ein Kriminalfilm, dessen Moral über das übliche Schwarz und Weiß des Genres hinausgeht.

Intrige (2019)

Roman Polanksis Film erzählt die Geschichte des Spionageabwehroffiziers Marie-Georges Picquart, der sich gegen Befehle stellte und als Zeuge zu Gunsten von Alfred Dreyfus aussagte, um dessen Namen reinzuwaschen.

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Meinungen

Carry · 04.04.2020

Großartiger Film, wäre toll mehr von solchen zu sehen! Und - es ist Geschichte, die stattgefunden hat. Was aber viel schlimmer ist, als die Substanz des Antisemitismus, dass es heute noch genau so stattfindet und dass der Film genau deswegen, teilweise aus gehobenen Reihen, eben nicht gelobt wird. Ja, die Wahrheit ist manchmal wirklich hässlich, aber darf trotzdem nicht verschönert oder verschwiegen werden. Es ist einfach so.
Kann den Film vom Herzen empfehlen, tolle Schauspieler.

Eva Meyer · 07.02.2020

es hat zu lange gedauert in der handlung spannung aufzubauen. zu viele technische details s.
Schriftexpertisen usw.. Fuer Franzosen ist das Thema sicher immer noch aktuell!

Pascale Ehly · 12.03.2020

Für die Deutschen und sogar für die ganze Welt ist doch das Thema Antisemitismus und Rassismus zur Zeit auch sehr aktuell!

Martin Zopick · 07.02.2020

Mit dem deutschen Titel hat Regisseur Polanski gleich den Nagel auf den Kopf getroffen. Das was da in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts abgelaufen ist, war so. Man hat den unbescholtenen jüdischen Offizier Dreyfus (Louis Garrel) als Spion für den Erzfeind Deutschland ausgeguckt. Selbst als der neue Spionagechef Picquart (Jean Dujardin) belegen kann, dass Dreyfus unschuldig ist, wird die Verbannung des Delinquenten auf die Teufelsinsel aufrechterhalten.
Der Plot braucht ein wenig, bis er in die Gänge kommt, wird aber in Richtung Finale nochmals spannend. (Es gibt sogar einen Toten!)
Damals hat sich viel Prominenz für Dreyfus eingesetzt. Allen voran Emile Zola, der mit seiner Aktion ‘J’accuse‘ (Originaltitel) die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht hat. Polanski dokumentiert in eindrucksvollen Bildern dieses Drama von korrupten französischen Staatsbeamten, in dem der Antisemitismus fröhliche Urstätt feierte und in dem sich der Nepotismus bis in höchste Regierungskreise eingenistet hatte. Bei aller gewahrten Distanz wird Emotionalität nicht ausgeschlossen. Hier spielt die Generalsgattin Pauline (Emmanuelle Seigner, Polanskis Ehefrau) eine wichtige Rolle.
Einziger Einwand, den man geltend machen könnte, gewisse Vorkenntnisse sind bei der komplexen Sachlage hilfreich.
Vom Regisseur kann man menschlich halten, was man will, als Künstler kann es keine zwei Meinungen über ihn geben. Hier hat er wieder sein Können unter Beweis gestellt.