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In „Forever Young“ zeigt Valeria Bruni Tedeschi das Leben, Lieben und Leiden einer jungen Schauspieltruppe – voller Energie und Überschwang.

Forever Young (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

I’m gonna live forever

Eine junge Frau und ein junger Mann spielen im Rahmen einer Aufnahmeprüfung eine Szene aus Jean-Paul Sartres Theaterstück „Die ehrbare Dirne“. Doch Stella (Nadia Tereszkiewicz), die 20-jährige Anwärterin für einen der begehrten Plätze auf der renommierten Schauspielschule des Théâtre des Amandiers im Pariser Vorort Nanterre, spielt nicht einfach nur. Sie gibt alles, sie lässt sich gänzlich fallen. Sie entblößt sich – im wörtlichen, vor allem aber im übertragenen Sinne. Während das Prüfungskomitee die Szene bereits für beendet erklärt, schreit Stella den Schmerz ihrer Figur (oder ist es der eigene?) ohne Rücksicht weiter heraus. Später sitzt sie den Mitgliedern gegenüber, blickt mit ihren großen, expressiven Augen in die Runde und reagiert etwas fahrig und entrückt auf deren Anmerkungen und Fragen.

Mit Forever Young verarbeitet die auch als Schauspielerin bekannte Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi (Jahrgang 1964) ihre Zeit der Ausbildung am Théâtre des Amandiers in den 1980er Jahren. Dass die Figur der Stella dabei als ihr Alter Ego fungiert, ist unter anderem an deren Umfeld zu erkennen: Bruni Tedeschi entstammt einer Turiner Industriellenfamilie – und auch Stella wohnt in einer Villa mit eigenem Butler.

Gleichwohl wirkt der Film nicht wie eine reine Beschäftigung mit sich selbst, sondern vielmehr wie die sinnliche, vor Leidenschaft zuweilen beinahe übersprudelnde Erfassung eines Lebensgefühls – und wie eine französische Variante des US-Hits Fame – Der Weg zum Ruhm (1980) von Alan Parker über eine Gruppe junger Leute an einer New Yorker Schule für darstellende Künste. 

40 der Bewerber:innen schaffen es in einen Workshop; zwölf davon werden schließlich an der Schule aufgenommen. Zu diesen gehören neben Stella auch die wilde Adèle (Clara Bretheau), die zu Stellas bester Freundin wird, und der rebellisch-aufbrausende Etienne (Sofiane Bennacer), mit dem Stella eine Beziehung eingeht. Wir lernen die unterschiedlichen Motivationen der Figuren kennen – manche müssen bereits Verantwortung für Elternteile, Partner:innen oder Kinder übernehmen, andere suchen nach Erfüllung, Sinn, Respekt.

Das Drehbuch, das Bruni Tedeschi zusammen mit Noémie Lvovsky und Agnès de Sacy geschrieben hat, zeichnet dieses rastlose Schauspielvolk und insbesondere auch die beiden Lehrer Patrice Chéreau (Louis Garrel) und Pierre Romans (Micha Lescot) nicht unbedingt als Sympathieträger:innen; dennoch urteilt der Film nicht über sie. Die Kamera von Julien Poupard wirft sich mitten ins Geschehen und lässt sich von den kreativen Kräften und der emotionalen Wucht der Beteiligten mitreißen – im Konstruktiven ebenso wie im Destruktiven. „Ich fühle zu viel“, heißt es an einer Stelle. Hier fließt nicht nur Ketchup-Blut, hier fließen echte Tränen. Die satten Farben, die der Film in seinen Bildern wählt, passen perfekt zu diesem Exzess.

Seine stärksten Momente hat Forever Young, wenn er die spezielle Dramatik des porträtierten Berufsfeldes verdeutlicht. Etwa wenn eine Namensliste, die an der Eingangstür der Schule aushängt, die Workshop-Teilnehmer:innen darüber informiert, wer nun letztlich aufgenommen wurde – und die jungen Menschen darauf sowohl im positiven als auch im negativen Falle eine derart übersteigerte Reaktion an den Tag legen, als hinge ihre ganze weitere Existenz von dieser einen Entscheidung ab. Oder wenn die zwölfköpfige Gruppe bei einem Table-Read das Anton-Tschechow-Stück Platonow in diversen Konstellationen austestet und alle dabei versuchen, ihr Können gezielt zu demonstrieren.

In der zweiten Hälfte mutet das Filmgeschehen recht überfrachtet an. Eifer- und Drogensucht, Aids, mehrere, teils ungeplante Schwangerschaften und ein finales Unglück – fast könnte man meinen, die komplette Staffel einer Primetime-Soap in vierfacher Geschwindigkeit gebingt zu haben. Dass es trotzdem einnehmend bleibt, ist auch dem intensiven Spiel von Nadia Tereszkiewicz und deren Co-Stars zu verdanken.

Bis in die Nebenparts hinein ist die Besetzung äußerst spannend. So verkörpert die ebenfalls als Filmemacherin tätige Suzanne Lindon, Tochter des Schauspiel-(Ex-)Paares Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, eine abgelehnte Aspirantin, die sich ihren Einstieg in die Szene über Umwege zu erschleichen versucht. Louis Garrel, der Ex-Lebensgefährte von Bruni Tedeschi, gibt den exzentrisch-cholerischen Direktor und erklärt in Eiseskälte einer Schülerin, gespielt von seiner echten Halbschwester Léna Garrel, dass sie ihn leider so gar nicht berühre.

Forever Young ist in seinen Ausschweifungen und Konflikten vielleicht von allem ein bisschen zu viel – aber genau das verleiht ihm zugleich etwas Stimmiges, Angemessenes und Reizvolles.

Forever Young (2022)

Paris, Ende der 1980er-Jahre: Stella, Etienne, Adèle und ihre übrigen Kommilitonen sind 20 Jahre alt, als sie die Aufnahmeprüfung an der berühmten Schauspielschule des Théâtre des Amandiers bestehen. Es ist für alle ein Wendepunkt in ihrem Leben. Am Theater im Pariser Vorort Nanterre hat Regisseur Patrice Chéreau gemeinsam mit Pierre Romans im Rahmen eines Modellversuches ein Schauspiellehrinstitut und eine Filmproduktion angeschlossen. Chéreau gilt als „eigenwilliger Regisseur mit besonderem Talent für Schauspielerführung“. Unter den jungen Schauspielschülern wechseln sich Leidenschaft, Spiel und Liebe miteinander ab. In Zeiten von AIDS erleiden sie auch verschiedene Schicksalsschläge

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