Die verlorene Zeit

Eine Filmkritik von Lida Bach

Liebe in Zeiten des Krieges

„Die Erinnerung kommt nicht als Ganzes“, schreibt Hannah Levine (Dagmar Manzel) in ihr Tagebuch nieder. „Sie kommt in Bruchstücken.“ Ein solcher Splitter des Vergangenen ist ihr an einem sonnigen Nachmittag in New York bis ins Herz gedrungen. In einem Schwarz-Weiß-Interview auf einem kleinen Fernseher, der im Hintergrund in einem Reinigungsgeschäft läuft, sieht sie einen Totgeglaubten. Jemanden, den sie liebte und begehrte, dort wo Liebe und Leidenschaft per se abwesend scheinen: im Konzentrationslager, wo die Jüdin und der Widerstandskämpfer Häftlinge waren.
Auf der Party, die ihr Mann Daniel (David Rasche) an diesem Abend für Freunde und Kollegen gibt, ist Hannah abwesend. Noch bevor sie es physisch ist und unter einem Vorwand ihre elegante Wohnung verlässt, ist sie es im Geiste. Hinter ihr steht die Vergangenheit im Zimmer, die die Regisseurin Anna Justice hereingelassen hat. Zuerst verstört Die verlorene Zeit, wie der Titel des ambivalenten Dramas das Ungreifbare nennt, Hannah nur durch ihre Präsenz. Dann zieht es sie in seine Arme in Gestalt von Tomasz Limanowski (Mateusz Damiecki). 22 Jahre ist es her, dass die beiden ein Liebespaar waren im besetzten Polen während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Wie eine andere Welt erscheint das komfortable Apartment, das die beherrschte ältere Dame mit Daniel und ihrer erwachsenen Tochter teilt, gegenüber dem Ort, wo Tomasz und sie einander liebten, doch nach dem zufällig gesehenen Fernsehinterview fließen sie ineinander.

Tomasz steht rauchend am Fenster und auch Hannah zündet sich eine Zigarette an. Tomasz isst am Büffet und Hannah irrt zwischen ihren Gästen durch die Räume. Zu ihm hin? Von ihm fort? Sie weiß es nicht, der Zuschauer nicht und auch nicht Anna Justice. Manche Gefühle können nicht erklärt werden, sondern nur gezeigt. Die ambitionierte Allianz von Charakterspiel und Kriegsdrama setzt alles daran, dies zu erreichen. Was Die verlorene Zeit von den konventionellen Holocaust-Melodramen, die längst ein eigenes Subgenre bilden, hervorhebt ist ein Mangel: Es ist ein Mangel an Sentimentalität, an Kitsch, an Verbrämung. Nach dem Entkommen aus dem Lager ist die Flucht nicht gelungen, sie beginnt erst. Jeder, dem sie begegnen, ist eine potentielle Bedrohung. Was sie brauchen, wird Tomasz und der jungen Hannah (Alice Dwayer) nicht von mitfühlenden Fremden geschenkt, sie müssen es stehlen. Ein unsichtbares Bündnis derer, die keine Faschisten sind, existiert nicht.

Letzteres muss das Paar besonders schmerzlich lernen, als es den untilgbaren Antisemitismus von Tomasz` Mutter (Susanne Lothar) zu spüren bekommt. Jene psychologischen Brüche und Unwägbarkeiten reißen beide auseinander zu einem Zeitpunkt der Handlung, der in einer konventionellen Geschichtsromanze schon das Happy End sein könnte. Zuerst waren es nur Blicke, die beide in ihrer von Stacheldraht umzäunten Welt teilten, dann kleine Heimlichkeiten: ein paar flüchtige Worte, ein paar hastig verschlungene Brotkrumen. Doch dabei bleibt es nicht. Drehbuchautorin Pamela Katz und die Regisseurin Anna Justice zeigen auch die physische Liebe zwischen dem Paar. Es sind die wohl schwierigsten Szenen, nicht allein aufgrund ihres historischen Rahmens, sondern auch wegen der dramaturgischen Darstellung, die sich dafür durchgesetzt hat.

Sexualität unter den Gefangenen ist ein Tabuthema, das fast automatisch zu Assoziationen mit obskuren Nazi-Exploitation-Werken wie SS Extermination Love Camp (Italien 1976, Regie: Bruno Mattei) und Last Orgy of the Third Reich (Italien 1977, Regie: Cesare Canevari) führen. In seiner pietätvollen und um Realismus bemühten Bilderwahl ist Die verlorene Zeit ein cineastischer Gegenpol, der sich auf die stillen Emotionen seiner Charaktere konzentriert, ohne je ins Reißerische zu verfallen.

Das Klischee einer Liebe auf der Flucht führt einer der raren humorvollen Momente vor: „Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der keiner was weiß“, lallt eine betrunkene Deutsche, die ihre Affäre mit einem SS-Soldaten als erregendes Abenteuer empfindet. Für dergleichen Verstiegenes haben weder die Hauptfiguren Zeit, noch das beherrschte Drama, das ohne Verharmlosung zu beantworten versucht, was eine Reporterin den gealterten Tomasz (Lech Mackiewicz) fragt: „Wie war es möglich, sich in einem Konzentrationslager zu lieben?“

Die verlorene Zeit

„Die Erinnerung kommt nicht als Ganzes“, schreibt Hannah Levine (Dagmar Manzel) in ihr Tagebuch nieder. „Sie kommt in Bruchstücken.“ Ein solcher Splitter des Vergangenen ist ihr an einem sonnigen Nachmittag in New York bis ins Herz gedrungen. In einem Schwarz-Weiß-Interview auf einem kleinen Fernseher, der im Hintergrund in einem Reinigungsgeschäft läuft, sieht sie einen Totgeglaubten.
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Meinungen

Miroso · 12.12.2013

Mittelmässiger Film voller einseitigen Klischeen. Nicht schlecht, aber gut auch nicht. Empfehlenswert für Shoa-süchtigen Verklärer.

Guenter · 28.11.2011

Ein ebenso packender wie tief berührender Film mit sehr guten Schauspielerleistungen. Beeindruckend auch, wie in den Rückblenden spürbar wird, in welch hohem Maße selbst nach der Flucht aus dem Lager ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung bestehen bleibt. Unbedingt empfehlenswert!

Stephane · 14.11.2011

GREAT GREAT Movie! A must see!

Gudrun · 13.11.2011

Grandioser, wenn auch tief unter die Haut gehender Film. Absolut zu empfehlen!!!!!