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Mit seinem zweiten Film „Bohnenstange“ erzählt der junge russische Regisseur Kantemir Balagov voller Intimität von der schmerzlichen Liebe zweier Frauen im Leningrad des Jahres 1945. Direkt nach dem Krieg arbeiten sie in einem Versehrtenkrankenhaus und kämpfen ums Überleben.

Bohnenstange (2019)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Wo sie schweigen müssen, sprechen die Bilder

Hätte Kantemir Balagov nicht schon seinen Debütfilm „Closeness“ genannt, zu seinem zweiten hätte der Titel wohl noch besser gepasst. „Bohnenstange“ ist ein Film über Nähe, über die Schönheit einer innigen Umarmung und die zärtliche Berührung des Henkers. Vor allem aber ist es ein Drama über Distanzlosigkeit, das sich dem Zuschauer selbst mehr und mehr annähert, bis jeder freie Raum überbrückt oder gefüllt ist. Die schmerzliche Intimität einer Zeit rückt dicht heran: Leningrad im Jahre 1945, direkt nach dem Krieg, ist ein Ort des Mangels und der Kälte. Nach der langen Belagerung scheint es, die Stadt selbst wäre traumatisiert. In ihrer Verzweiflung drängen die Menschen zusammen und schließen die ausgedünnten Reihen, bis kaum mehr ein Einzelner zu erkennen ist. Selbst die Körper werden geteilt.

Unter den Überlebenden sind die gewitzte Masha (Vasilisa Perelygina) und die hochgewachsene starke Iya (Viktoria Miroshnichenko), die von allen nur „Bohnenstange“ genannt wird. Der Krieg hat sie zusammengeführt, sie bedeuten einander viel. Fast könnte man es Liebe nennen, doch das scheint keine Option zu sein. Nicht in dieser Zeit, nicht an diesem Ort. Beide finden Arbeit in einem Versehrtenkrankenhaus, sie behandeln die Wunden des Krieges an anderen und in sich selbst. Doch selbst mit fester Arbeitsstelle droht unentwegt der Hungertod.

Balagov zeigt diese schreckliche Erfahrung in ausgedehnten Szenen, die sich in der Regel von Totalen immer weiter zur Nahaufnahme bewegen. Auch wenn der größere Kontext immer angedeutet wird, zerfallen all die komplexen Gefüge stets in Zweierbeziehungen. Die Kamera verdrängt mehr und mehr Außenwelt, bis das Universum auf zwei pochende Herzen reduziert ist. Wo ein dritter hinzukommt – etwa Mashas aufdringlicher Verehrer Sasha (Igor Shirokov) oder der Chefarzt Nikolay Ivanovich (Andrey Bykov) – entsteht in der Regel ein Problem. Wo sich Menschenmassen bilden, werden die Einstellungen bis zum Rand vollgestopft. Auf der Suche nach freiem Raum wird man nicht fündig. Keine Bildkomposition ergibt sich so oft wie die von zwei Gesichtern, die einander im Profil gegenüberstehen. Man schaut in die Augen des Gegenübers und hofft, das auch jetzt, unter diesen Umständen, mehr existieren kann als der reine Blick.

Meist spielen die ausgedehnten Situationen in heruntergekommenen Innenräumen, die unwirtliche Kälte der Straßen ist selten mehr als ein Übergangsraum. Von draußen trägt man die Ereignisse des Tages in die Stube, wie Schnee an den Schuhen, der bald geschmolzen ist. Die Gesamtsituation ist vor allem für die zwischenmenschlichen Verbindungen wichtig. Es entwickelt sich ein Eindruck von historischen Ereignissen, doch Geschichte meint hier nicht bedeutsame Politiker der kommunistischen Partei, nicht Schlagzeilen und Radioberichte. Keine Schlacht wird gezeigt, kein Bild von der Stadt im Ganzen. Jeder Überblick ist längst verloren.

Stattdessen wird deutlich, wie sich die Ereignisse in die Körper einschreiben. Vom bis zum Hals gelähmten Soldaten Stepan (Konstantin Balakirev) über die entsetzliche Narbe auf Mashas Unterleib bis hin zu den weiß verfärbten Augenbrauen von Iya. Wo der Krieg Körperteile genommen hat, werden die Menschen einander Organe. Als ein Kriegsversehrter eine letzte Zigarette genießen will, bläst Iya ihm den Rauch in den offenen Mund. Eine sanfte Geste, ein kleiner Akt gegen die erbarmungslose Situation. Manchmal nähert sich Fürsorglichkeit jedoch der Selbstaufgabe an – man gibt, was man selbst braucht, manchmal sogar, was man gar nicht hat. Mancher Samariter wird gewalttätig zu seiner Heiligkeit gezwungen. In Bohnenstange gibt es zweifelsohne Gut und Böse, aber keine reine Tat. Helfen kann schaden und der Tod befreien. Das alles ist kein Nullsummenspiel, aber wo es Triumphe gibt, sind sie teuer erkauft.

Die Darsteller füllen die Leere zwischen den Worten mit der vollen Klaviatur der Leidensklänge: Pfeifende Lungenflügel, lautes Schlucken, Stöhnen, schweres Atmen, Röcheln. Im Schmerz nähert sich der Mensch dem Tier an, in einer besonders einprägsamen Szene spielen die Krankenhausversehrten mit Mashas kleinem Sohn Pashka (Timofey Glazkov) Scharade. Einer verzerrt seine Nase zum Schweinsrüssel. Ein Einarmiger imitiert die Bewegungen eines Flügelschlags, er endet irgendwo zwischen Vogel und gefallenem Engel. Als sie den Jungen in seinem bunten Pullover dazu bringen wollen, einen Hund zu imitieren, kommen sie schnell zu der düsteren Erkenntnis, dass er wohl noch nie einen gesehen hat. Sie wurden alle gegessen. In jeder Begegnung findet das Drehbuch kleine Indikatoren des allgemeinen Traumas. Über und unter allem liegt der Schmerz, doch er wird wohl auch sichtbar, weil er vergeht.

Bei all seiner emotionalen Schwerkraft ist Bohnenstange allerdings nie eine Last für seinen Zuschauer. Das Drama begräbt nicht unter sich, sondern übt einen Druck aus, der fast etwas Tröstliches hat. Wollte man eine Liste führen, man würde wohl ungefähr ein Gleichgewicht zwischen emotionalen Tiefschlägen und Augenblicken der Leichtigkeit vorfinden. So wie auch im entweder erdfarbenen oder schneeweißen Nachkriegswinter Tupfen von Farbe zu finden sind, werden die kleinen Freuden der Figuren durch den Kontrast hervorgehoben. Mal ist das ein grünes Kleid, das Masha für einen Moment aus dem schwarzen Abgrund entschweben lässt, mal eine wohlplatzierte Geste des Widerstandes gegen die eisernen Hierarchien. Wo aus dem Material allzu leicht selbstgenügsamer Arthouse-Schwermut hätte erwachsen können, wirkt stattdessen jede Szene ergebnisoffen. Auch wenn die Vergangenheit auf allem lastet, eine Zukunft gibt es doch. Bestimmte erwartbare Pfade werden angedeutet, aber schlussendlich selten betreten. Manchmal ist es fast ein wenig zu clever, wie eine bestimmte Erwartungshaltung so lange gefüttert wird, bis sie dann fast nebensächlich im Nichts verpufft. Bestimmte emotionale Tiefpunkte werden sogar übersprungen, als hätte der Film sie einfach verdrängt.

Bohnenstange ist oft quälend schön. Balagov hat ein bemerkenswertes Auge für Farben. Nichts erscheint grell oder ausgestellt, nirgendwo rutscht der eröffnete Widerspruch zwischen braungrünem Allerlei und bunten Sprengseln in süßlichen Kitsch ab. Man kann sich leicht in Details verlieren, in der Textur einer grünen Strickjacke oder einem Topf, aus dem sanfter Dampf aufsteigt. Oder in den Augen von Iya und Masha. Die Bilder sagen, worüber die Figuren schweigen müssen. Manche Sätze hat ihnen der Krieg geraubt, der Film steht ihnen zu Seite und wird selbst Organ ihrer Sehnsucht. Was nicht sein darf, wuchert umso wilder, unbeherrschbar in alle Richtungen. Balagov ist eine große Liebesgeschichte gelungen.

Bohnenstange (2019)

Leningrad im Jahre 1945: Der Zweite Weltkrieg hat die Stadt zerstört und ihre Bewohner traumatisiert zurückgelassen. Obwohl die Belagerung — einer der verheerendsten der Geschichte — nun vorüber ist, geht der tägliche Überlebenskampf weiter. Iya und Masha, zwei junge Frauen, versuchen in all . dem Chaos und er Verwüstung ein neues Leben aufzubauen. 

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Meinungen

Jochen Nix · 30.10.2020

wunderbare, einfühlsame Beschreibung dessen, was auch ich haute abend im Kino gesehen habe, Danke!

Stanislav · 26.11.2019

Sehr schöne Review, macht Lust auf den Film!