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In ihrem neuen Film „Saltburn“ schickt Emerald Fennell („Promising Young Woman“) einen Protagonisten mit unklaren Absichten in die britische Oberschicht, wo sich ein kompliziertes Geflecht der Abhängig- und Begehrlichkeiten entspinnt.

Saltburn (2023)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Im Labyrinth des Begehrens

Oxford im Jahre 2006: Der aus scheinbar prekären und dysfunktionalen Verhältnissen stammende Stipendiat Oliver Quick (Barry Keoghan) absolviert sein erstes Semester an der britischen Elite-Universität und bleibt zunächst ein Außenseiter, bis er in den Bannkreis von Felix gerät, einem gutaussehenden Abkömmling einer ebenso vornehmen wie reichen Familie, die ihn schließlich dazu einlädt, den Sommer auf dem ehrwürdigen und recht imponierenden Anwesen Saltburn zu verbringen. Die Familie von Felix entpuppt sich dabei als Ansammlung mindestens exzentrischer Charaktere.

Da ist zum einen Sir Harry Catton (Richard E. Grant), ein stets leicht abwesend wirkendes prototypisches Paradebeispiel britischer Noblesse und Fadheit, dann dessen Ehefrau Elsbeth (Rosamund Pike), eine mitteilsame Frau mit bewegter Vergangenheit, dazu Felix’ Schwester Venetia (Alison Oliver), deren ungesunde Essgewohnheiten nur noch von ihrem sexuellen Verlangen übertroffen werden und der leidlich geduldete, aber nicht minder arrogante Cousin Farleigh (Archie Madekwe), dem Oliver schon in Oxford begegnet war und mit dem ihn eine ebenso herzliche wie gegenseitige Abneigung verbindet.

Zunehmend souveräner bewegt sich Oliver durch diesen ihm scheinbar fremden Kosmos, wickelt jedes der Familienmitglieder um den Finger, schwankt zwischen durchtriebener Strippenzieherei und sich verzehrender Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und sexueller Erfüllung und treibt so bewusst oder unbewusst eine Entwicklung voran, die nicht nur ihn, sondern auch die in Ritualen und Ennui erstarrte Familie, nun ja, mindestens verändert. Und erst am Schluss, mit einem gewaltigen Plottwist, kommt man den wahren Ereignissen auf die Spur – oder vielleicht auch doch nicht, weil sich dann erst verdeutlichen und zeigen wird, dass der Erzähler des Films und die Adressatin seiner Erzählung keineswegs objektiv oder neutral sind.

Zweimal wechselt der Film seine Erzählweise und Tonalität deutlich wahrnehmbar und wird dabei zunehmend düsterer und abgründiger – und doch laufen die zentralen Themen wie Klassenzugehörigkeit und -abgrenzung, Macht, Ohnmacht und Dominanz, sexuelles Begehren, wirtschaftliche und gesellschaftliche Abhängigkeiten und die Frage nach sozialen wie sexuellen Identitäten permanent mit, was sich aber erst über die gesamte Laufzeit des Films und in der Rückschau erschließt. Weil Saltburn über versteckte Codes und feinsinnige Andeutungen agiert und seine Botschaften nicht wie etwa Triangle of Sadness mit dem Holzhammer in die Köpfe des Publikums hineinprügelt. Dadurch entstehen fast zwangsläufig Brüche, Leerstellen und blinde Flecken, die Saltburn auf den ersten Blick zu einem lückenhaften und unfertigen Film werden lassen, der eben nicht alles erklärt, der in beinahe jeder Szene mindestens ebenso uneindeutig ist wie sein ambivalenter Protagonist, mit dem Emerald Fennell uns zwingt mitzufiebern, obwohl seine Handlungen und Absichten mindestens fragwürdiger, wenn nicht sogar eindeutig bösartiger Natur sind. Vielleicht liegt ja hierin der Grund dafür, dass dieser Film so viel Ablehnung erfährt. 

Saltburn ist ein Film voller literarischer, vor allem aber filmischer Bezüge und Referenzen: Er fügt sich nahtlos ein in eine ganze Reihe von Werken der letzten Zeit, die Klassenverhältnisse, aber auch Klassenkämpfe zu ihrem zentralen Topos werden lassen (Parasite und Triangle of Sadness sind hierfür nur die prominentesten Beispiele), streut atmosphärische Referenzen zu Call Me by Your Name ein, erinnert schon allein aufgrund von Barry Keoughans ambivalenter Präsenz an Yorgos Lanthimos’ Killing of a Sacred Deer, variiert Pasolinis Teorema ebenso wie Stanley Kubricks Shining, ist Klassensatire, queer-erotisches Melodram ebenso wie Horrorkino, erinnert an manchen Stellen an Gothic Novels, dann wieder an Coming-of-age-Filme und unbeschwerte Highschool-Komödien, ist all dies gleichzeitig und doch nichts davon.

International zeigten sich die Kritiken überwiegend verhalten bis enttäuscht von Emerald Fennells Nachfolger zum hochgelobten Promising Young Woman. Von den gerade mal drei zudem nicht sehr explizit inszenierten sexuellen Grenzüberschreitungen, die moniert werden einmal abgesehen, die eher auf eine prüder werdende allgemeine Geisteshaltung hinweisen als auf wahre Tabubrüche (echt jetzt, Menstruationsblut soll immer noch ein Tabu sein?), sind es vor allem der Plot und angeblich mangelnde psychologische Figurenzeichnung, die Fenell vorgeworfen werden.

Wahr ist, dass Saltburn sich zwischen den Genrestühlen bewegt, in gleich drei scharf voneinander getrennte Teile zerfällt und damit die Erwartungen des Publikums subversiv unterläuft. Das nimmt ihm scheinbar die Stringenz und Soghaftigkeit, die das Vorgängerwerk unzweifelhaft auszeichnete. Dennoch steckt unfassbar viel in diesem enorm vielschichtigen Film, der sehr viel mehr ist als nur eine Variante eines Films (und einer literarischen Vorlage) wie Der talentierte Mr. Ripley. Und weil Saltburn nicht im Kino, sondern ausschließlich bei Prime Video zu sehen ist, empfiehlt es sich, diesen Film (sofern man ihn nicht komplett ablehnt) nicht nur einmal, sondern mehrmals zu schauen und dabei immer wieder neue Details und Verästelungen zu entdecken.

Saltburn (2023)

Der Thriller handelt von einem jungen Hochschulstudenten, der die Bekanntschaft mit einer exzentrischen englischen Aristokratenfamilie macht.

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