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Guillermo del Toro dieses Mal auf fremden Spuren: Mit Nightmare Alley adaptiert der Mexikaner den gleichnamigen Roman von William Lindsay Gresham, der bereits einem Film noir von 1947 als Vorlage diente. Ob del Toro nach Shape of Water – Das Flüstern des Wassers erneut ein Glanzstück vorlegt?

Nightmare Alley (2021)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Der nächste Trick ist nicht genug

Schon oft hat Guillermo del Toro in Interviews betont, dass das Fantastische in jungen Jahren ein Rückzugsort für ihn gewesen sei. Eine Spielwiese voller Monster, mit denen er sich stets identifiziert habe. Wenig überraschend gehört die Liebe für das Andersartige und Ausgegrenzte zu den großen Konstanten im Schaffen des mexikanischen Filmemachers. Vortrefflich kondensiert in seiner letzten Regiearbeit Shape of Water – Das Flüstern des Wassers, einer in den 1960er-Jahren angesiedelten düster-märchenhaften Romanze, die auf betörend sensible Weise vom Zusammenfinden zweier Außenseiter, einer gehörlosen Putzfrau und einem gefangen gehaltenen Amphibienmenschen erzählt. Wie del Toro hier das Unwirkliche mit ganz realem Schrecken, den Auswüchsen des Kalten Krieges und rassistischen Haltungen verbindet, ist schlichtweg bemerkenswert – und wurde völlig zu Recht mit vielen wichtigen Preisen, darunter vier Oscar-Statuen, honoriert.

Mit dem Übernatürlichen, konkret mit der Welt der Toten, flirtet der Regisseur und Drehbuchautor auch in seinem neuen Werk Nightmare Alley. Am Ende bleibt er – so viel darf man vorab verraten – auf dem Boden der Tatsachen. Dass die bereits 1947 einmal verfilmte Vorlage, der gleichnamige Roman aus der Feder William Lindsay Greshams, sein Interesse wecken konnte, ist dennoch absolut verständlich. Beinhaltet das Buch doch viele Dinge, für die sich del Toro nachweislich begeistern kann: Mit einem Wanderjahrmarkt gibt es ein eigenwilliges Setting. Einen Mikrokosmos, der an Tod Brownings humanistischen Horrorstreifen Freaks erinnert und in dem sich Leute tummeln, die am Rande der Gesellschaft stehen.

Das Monströse, das in den Filmen des Mexikaners häufig eine prominente Rolle spielt, kommt in diesem Umfeld ebenfalls zum Vorschein. In Gestalt der sogenannten Geeks, Menschen, die einem zahlenden Publikum als animalische Sensationen dargeboten werden. Erwartungsgemäß blendet der Monsterversteher del Toro das grausame Schicksal dieser Figuren nicht aus, sondern sensibilisiert uns für ihr Leid. Besonders dann, wenn er Clement Hoately (Willem Dafoe), den verschlagenen Besitzer des Kuriositätenkabinetts, erklären lässt, wie man aus einem aufgegriffenen Obdachlosen Schritt für Schritt einen Geek formt.

Anders als in Shape of Water – Das Flüstern des Wassers steht das vermeintliche Ungetüm, das permanent Gewalt und Erniedrigung ertragen muss, in Nightmare Alley jedoch nicht im Mittelpunkt. Diesen nimmt vielmehr der von Bradley Cooper gespielte Stanton Carlisle ein, den wir gleich zu Beginn sein altes Leben verbrennen sehen. Auf der Flucht vor seiner offenbar wenig erfüllenden Vergangenheit treibt es ihn im Jahr 1939 in Hoatelys Arme. Und recht bald gehört der zupackende und wissbegierige Mann zum Stammpersonal des Jahrmarkts. Fasziniert ist er besonders von den verheirateten Mentalisten Zeena (Toni Collette) und Pete (füllt seine tragische Rolle mit großem Feingefühl aus: David Strathairn), deren Verführungstricks er sich beibringen lässt.

Dass sich del Toro spätestens nach seinem Ausnahmeerfolg mit Shape of Water – Das Flüstern des Wassers in Hollywood mehr erlauben darf als viele Kolleg*innen, beweist der klassische Drehbuchregeln zunächst unterlaufende Aufbau seiner Romanadaption. Ausgiebig führt uns der Oscar-Preisträger in den Schauplatz ein, beobachtet den Alltag der bunten Jahrmarkttruppe und schwelgt regelrecht in den leicht heruntergekommenen Kulissen, die bis in den letzten Winkel akribisch ausgestattet sind. Den Schlamm, in dem die Wagen und Buden nach Regengüssen stecken, meint man fast spüren zu können. So sehr ziehen einen die Bilder von Kameramann Dan Laustsen in den Bann.

Der Reiz der ausgedehnten Jahrmarktepisode besteht darin, dass sie nicht auf Teufel komm raus vorwärtsdrängt, keine klare Richtung erkennen lässt. Die Erzählung könnte alle möglichen Wege einschlagen. Rückblickend betrachtet nimmt Pete in einer an Stanton gerichteten Warnung allerdings in groben Zügen vorweg, was dem lernwilligen und talentierten Illusionsschüler in der zweiten Hälfte widerfahren wird. Ist irgendwann klar, dass ihn das Leben in der Kirmesgesellschaft nicht mehr befriedigt, weil er sich zu Höherem berufen fühlt, kristallisiert sich heraus, wovon genau Nightmare Alley eigentlich handelt: von einem Ehrgeizling, der um jeden Preis erfolgreich sein und Menschen verzücken will. Einem Mann mit einer früh aufblitzenden dunklen Seite, der den Einsatz seiner simulierten paranormalen Fähigkeiten mit guten Absichten rechtfertigt und sich in seinen eigenen Täuschungen verfängt.

Der zweite Filmabschnitt, der Stanton, begleitet von seiner Jahrmarktliebe Molly (Rooney Mara), als einen die New Yorker High Society begeisternden Hellseher präsentiert, hebt sich mit seinen exquisiten, geschmackvoll eingerichteten Schauplätzen schon optisch stark ab von der dreckig-einfachen Welt der Schausteller*innen. Die Hauptfigur scheint oben angekommen, hat aber nicht genug und sucht nach immer größeren Herausforderungen, um ihr manipulatives Können zu beweisen. So wenig durchschaubar die erste Dreiviertelstunde war, so deutlich zeichnet sich nun ab, dass es nur nach unten gehen kann. In bester Film-noir-Manier legt sich ein Gefühl der Ausweglosigkeit über das Geschehen, das del Toro am Ende blutig eskalieren lässt.

Die zweite Adaption von Greshams Roman transportiert spannende Überlegungen – etwa die Frage, ob man trauernden Menschen etwas vorgaukeln darf, um ihnen Trost zu spenden. Und diverse Szenen wissen zu fesseln, da der prominente Cast meistens die richtigen Töne trifft. Hervorheben muss man an dieser Stelle David Strathairn, der seine tragische Rolle sorgsam austariert. Gleichzeitig drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass das von del Toro und Kim Morgan geschriebene Drehbuch seine Charaktere eher als Schachfiguren betrachtet und die angestrebte Tiefe wiederholt verfehlt. Die erst zur Mitte hin eingeführte Therapeutin Dr. Lilith Ritter wirkt trotz Cate Blanchetts undurchsichtig-einschüchternder Performance nicht ambivalent genug. Mollys wachsende Zweifel an ihrem Partner hätten noch mehr Aufmerksamkeit vertragen können. Ein ums andere Mal werden uns küchenpsychologische Erklärungen aufgetischt. Stantons unselige, in Rückblenden entblätterte Vorgeschichte hält keine großen Überraschungen bereit. Und dafür, dass andauernd von Komplexen, Schmerz und Traumata die Rede ist, bleibt die emotionale Kraft häufig überschaubar.

Wer nach Shape of Water – Das Flüstern des Wassers auf ein neues Meisterwerk gehofft hat, dürfte das Kino leicht enttäuscht verlassen. Bei aller Bildgewalt und darstellerischen Klasse besitzt Nightmare Alley nicht die erzählerische Finesse und berührenden Qualitäten der Fantasy-Romanze von 2017. Del Toros jüngster Streich spielt eher in der Liga seiner schauerlichen Liebesmär Crimson Peak, die optisch und atmosphärisch besticht, inhaltlich aber etwas mehr abliefern könnte.

Nightmare Alley (2021)

Ein ehrgeiziger Schausteller mit dem Talent, Menschen mit ein paar gut gewählten Worten zu manipulieren, lässt sich mit einer Psychiaterin ein, die noch gefährlicher ist als er selbst.

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