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Ghalib ist Lastwagenfahrer genau wie sein Vater vor ihm. Doch sein Arbeitgeber möchte ihn bald durch einen Jüngeren ersetzen, und Ghalib soll diesen anlernen. Das indische Melodrama von Ivan Ayr setzt sich mit einer Gesellschaft zwischen Tradition und Modernität auseinander, in der der Einzelne gegen das Kollektiv verliert.

Milestone (2020)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Die Fahrt des Lebens

Schon sein Vater sei Lastwagenfahrer gewesen, teilt der sonst einsilbige Ghalib (Suvinder Vicky) stolz gegenüber seinem neuen Lehrling mit. Eigentlich mag er den jungen Pash (Lakshvir Saran), doch weiß er auch, dass ihn dieser so schnell wie möglich als Fahrer ersetzen soll. Das Familienunternehmen der Gills ist bekannt für seine pragmatische – oder besser: unsolidarische – Arbeitnehmerpolitik. Ein anderer langjähriger Mitarbeiter und Freund von Ghalib wurde entlassen, weil er wegen seiner Augen nachts nicht mehr fahren kann. Die Mehrheit der anderen festangestellten Fahrer und Packer hat eine Gewerkschaft gegründet und streikt für bessere Arbeitszeiten und mehr Gehalt. Die Gills denken aber nicht daran, auf ihre Forderungen einzugehen.

Der indische Autorenfilm Milestone des Regisseurs Ivan Ayr interessiert sich genau für diese Verhältnisse in der Arbeitswelt. Er zeigt, wie in den Mentalitäten traditionelle Werte mit dem Wunsch nach Veränderung in Richtung einer selbstbestimmteren und damit moderneren Lebensweise in einen Gegensatz geraten. Die Tradition erweist sich bisher aber noch als starrer Rahmen, der individuelle Bedürfnisse nur sehr wenig anerkennt. Die Streikenden haben, auch wenn auf rechtlicher Ebene ihre Anliegen berechtigt sein mögen, im überlieferten Wertekanon keine Chance, denn sie gehören der ländlichen Bevölkerung und einer unteren Kaste an, von der erwartet wird, dass sie sich unterwürfig verhält und sich allenfalls durch harte Arbeit würdig zeigen kann. 

Als weiteres drängendes Problem gilt die allgegenwärtige Dynamik der Korruption. Auch wenn das Unternehmen die notwendigen Papiere wie Versicherungsschein oder Frachtdokumente in Ordnung behält, bei jedem Kontrollposten der Polizei braucht es eine kleine Bestechung, um unbehelligt durchfahren zu können. Dies zusätzlich zur Tatsache, dass das Unternehmen bereits pauschal der Polizei die nötigen Schmiergelder zukommen lässt. 

Durch die Schwäche der staatlichen Autorität fehlen Mittel, das Arbeitsrecht anzuwenden oder Menschen mit Ausfallrenten zu unterstützen. Doch bestehen in gewissen Bereichen andere Strukturen, die für die Ordnung in der Gemeinschaft auf einer unteren Ebene zuständig sind. Einem solchen Dorfrat, präsidiert von einer alten Frau, muss sich auch Ghalib stellen. Seine Ehefrau hat Selbstmord begannen. Ihre Angehörigen geben ihm die Schuld daran und fordern Schadenersatz von ihm. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Ghalib ungerecht behandelt fühlt, doch er fügt sich dem Urteil des Rates. 

Die Szenen dieser Konfrontation, in denen alle Anwesenden mit ruhiger, aber dennoch entschlossener Stimme sprechen und eine spürbare Anspannung zeigen, gehören zu den Höhepunkten des Films. Ghalibs Blick ist voll von Wut und gleichzeitiger Enttäuschung. Er ist ein Mann der wenigen Worte, tief verletzt vom Misstrauen, das ihm seine Frau entgegenbrachte, und vom Gefühl, dass man seine Leistungen und Loyalität nicht anerkennt. 

Als Charakterporträt dieses einsamen Menschen kann Milestone überzeugen. Das Gesellschaftsbild hingegen vermittelt eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte, die aber etwas konzentrierter besprochen hätten werden können. Neben den Arbeitsverhältnissen wendet sich die Aufmerksamkeit der Wohnsituation in überfüllten städtischen Siedlungen zu, der Stellung von Alkohol in der Gesellschaft und der Problematik des Selbstmords, um nur einige Themen zu nennen. Es entsteht der Eindruck, dass der Regisseur zu viel auf einmal wollte. Eine grundsätzliche Straffung des Stoffes hätte seine Aussage präziser gemacht und gewisse Längen vermieden. 

Die Form des Films könnte man als fragmentarisch bezeichnen. Viele Szenen sind angedeutet, aber nicht auserzählt. Dem Regisseur geht es darum, eine Stimmung zu vermitteln, und er geht daher impressionistisch vor. Oft befinden sich die Protagonisten in der Führerkabine des Lasters, im engen Treppenhaus von Ghalibs Wohnhaus, in seiner kleinen Wohnung oder in anderen Innenräumen, und es entsteht dadurch eine klaustrophobische Atmosphäre. Dass die Mehrheit der Szenen in der Dämmerung oder in der Nacht spielen, verstärkt den Eindruck des Düsteren. In diesem Melodrama gibt es nur wenige Lichtblicke, meistens ist es dunkel und ernst. 

Insgesamt handelt es sich bei Milestone um einen bemerkenswerten Autorenfilm, der Zeuge von Indiens filmkünstlerischer Entwicklung ist. Milestone, der Teil des offiziellen Programms des letztjährigen Festivals in Venedig war, und Pebbles von P. S. Vinothraj, Gewinner beim Internationalen Filmfestival Rotterdam, sind nur zwei aktuelle Beispiele für den zu erwartenden Vormarsch des indischen Films auf internationalen Festivals. 

Milestone (2020)

Ein trauernder Lieferwagenfahrer hat inzwischen bereits 500.000 Kilometer zurückgelegt. Doch nun droht er seine Lebensaufgabe an einen neuen Praktikanten zu verlieren.

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