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Pablo Larraín („Spencer“) verwandelt den chilenischen Diktator Augusto Pinochet in einen Vampir mit Sinnkrise. Die gewitzte Idee fällt schnell in sich zusammen.

El Conde (2023)

Eine Filmkritik von Janick Nolting

Ein Herzensdieb

In den Filmen von Pablo Larraín kann man sehen, wie Fiktionen Geschichte schreiben und umgekehrt. Wiederholt geht es um Inszenierungen, die sich in ein kulturelles Gedächtnis einschreiben und die Zeit überdauern sollen. Wiederholt geht es darum, über künstliche Bilder, die die Geschichte(n) ausschmücken, überschreiben und umschreiben, zu inneren Wahrheiten vorzudringen. Der Dichter Pablo Neruda, die First Lady Jackie Kennedy oder auch Lady Diana Spencer dienten dem Regisseur bereits als historische Persönlichkeiten, deren Außenwirkung er mit einer Lust am Fabulieren in Dialog treten ließ. Immer an der Schnittstelle von Öffentlichem und Privatem. Es galt, Ikonen einer Gesellschaft bei ihrer Konstruktion oder ihrem Fall zuzusehen.

Larraíns El Conde unternimmt Ähnliches mit der Gestalt des Diktators Augusto Pinochet und den Verbrechen, die unter seiner Gewaltherrschaft begangen wurden. Der Regisseur nähert sich damit einem verheerenden Stück chilenischer Geschichte, das er schon öfter thematisiert hat, darunter in dem Oscar-nominierten Drama ¡No!. Die Gespenster des 20. Jahrhundert wollen einfach nicht ruhen, und so begreift Larraín den Diktator als untoten Protagonisten. Was wäre, wenn Pinochet nie gestorben wäre, sondern seinen Tod nur vorgetäuscht hätte? In einem Gehöft im Nirgendwo hält er sich versteckt, in einer düsteren Bruchbude aus einer fremden Zeit, in der es knackt und knarzt und rumort im Gebälk. Bedrohlich heult der Wind durch die Ritzen. In den Regalen stehen Spielfiguren von Panzern und Soldaten in Uniform. 

Pinochet ist in El Conde ein uralter Vampir, der schon zu Zeiten der Französischen Revolution das Blut der enthaupteten Marie Antoinette vom Fallbeil schleckte. Jetzt sucht er das heutige Chile heim. Jaime Vadell spielt diesen greisen vampirischen Diktator mit schaurigem Charisma. Seinen Mantel breitet er aus, formt ihn zu dunklen Schwingen, erhebt sich in die Lüfte der Nacht. Zwischen Wolkenkratzern und über Straßen fliegt er hinweg, um in äußerst brutal inszenierten Gewaltakten Blut und entrissene Herzen zu stehlen. El Conde parodiert diese Gestalt, lässt ihr jedoch ihren Schrecken, wenngleich sie selbst versucht, an ihrem Image zu arbeiten.

Das funktioniert für etwa eine halbe Stunde als skurrile und derbe Horror-Farce. Zugleich ist Larraíns Film so selbstvernarrt in seine Idee und die übergestülpte Schwarzweiß-Ästhetik, die noch entfernt an Murnaus Nosferatu erinnern will, dass sich schnell die Frage stellt, was diese Gruselgeschichtsstunde überhaupt aufzeigen will. Der Vampir ist seiner Unsterblichkeit überdrüssig, die Familie hinter dem Erbe her. Ein Vermögen will verwaltet werden, eine Nonne kommt herbei, um das Böse auszutreiben. In Verhören werden alte Verbrechen aus der Zeit der Diktatur noch einmal beschworen. Der gesamte Mittelteil von El Conde ist furchtbar überladen mit sich verlaufenden Plot-Schichten. Seine amüsante Idee tritt langweilend auf der Stelle. Nur selten wollen die Bilder interessant ins Fließen geraten. Etwa dann, wenn sich Pinochet an den Orten seiner Vergangenheit zwischen Büsten positioniert und zu dissonanten Streichern traurig Gänge abschreitet. Man glaubt, er würde es Kristen Stewarts Lady Di gleichtun und jeden Moment zu tanzen beginnen.

Echte Sensationen und Provokationen gelingen El Conde jedoch erst wieder im letzten Akt, wenn sich die Figuren in der Zeit rückwärts zu bewegen scheinen, Geschichte als Kostümspektakel wiederaufgeführt werden soll, um alte Machtverhältnisse neu zu zementieren und zu revidieren. Dort erkennt man das ganze schelmische Potenzial dieses Films, spätestens wenn Larraín noch eine weitere berüchtigte Gestalt der Zeitgeschichte zurück auf die Leinwand bringt. 

Solange ihre Vergehen, ihre Prägungen nicht begraben und reflektiert werden, kann man höchstens darauf vertrauen, dass sich die Gespenster selbst dezimieren, oder sie kehren in unsere Welt zurück, führt El Conde warnend vor. Aber ist damit nach fast zwei Stunden wirklich etwas substanziell durchdrungen? Sie genügen sich in purem Fatalismus, enden plötzlich, wenn es eigentlich brisant wird. Larraín verhandelt schließlich ein gesamtgesellschaftliches, kulturelles Problem der Vergangenheitsbewältigung, ohne sich je für einen gelebten Alltag, die sogenannte Normalität zu interessieren, von kurzen Raubzügen und Ausflügen einmal abgesehen. Seine absurde Gruselmär müsste viel früher in das Außen vorstoßen, ihren familiären Rahmen aufreißen, die Täterperspektive stärker erweitern. Dann hätte man tatsächlich Konfliktträchtiges demonstrieren können.

Stattdessen müht sich der Film an ein paar berechenbaren Dracula-Motiven ab, will einen Haken nach dem anderen schlagen. Hätte Larraín doch bei Bram Stoker besser aufgepasst! Auch dort kann der Vampir in seinem abgeschiedenen Zuhause gruseln und grübeln, wie er will: Interessant wird es dennoch erst, wenn er sich von dort entfernt, wenn er wahrhaftig unter uns weilt.

El Conde (2023)

Die düstere Horrorkomödie El Conde spielt in einem von der jüngeren Geschichte Chiles inspirierten Paralleluniversum. Augusto Pinochet, eine der Schlüsselfiguren des globalen Faschismus, haust als Vampir in einer Ruine an der eisigen Südspitze des Kontinents. Dort stillt er seine finsteren Bedürfnisse, um zu überleben. Doch nach 250 Jahren beschließt er, fortan auf Blut und damit auf sein ewiges Leben zu verzichten. Er erträgt es nicht mehr, dass die Menschen sich an ihn als Dieb erinnern. Obwohl er von seiner rückgratlosen Familie enttäuscht wird, inspiriert ihn eine unerwartete Beziehung, sein konterrevolutionäres Leben voll auszukosten.

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