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Nicht Mann, nicht Frau, sondern irgendetwas dazwischen – das klingt nach modernem Gender-Diskurs. Tatsächlich verhandelt der neue Film von Bujar Alimani aber eine uralte, sehr besondere Tradition: die der albanischen Schwurjungfrauen. Sie dürfen als Mann leben, wenn sie der Sexualität abschwören.

Luanas Schwur (2021)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Zwischen Zwangsehe und Mannfrau

Es ist schon etwas Besonderes, wenn eine Schauspielerin auf einem Festival nicht nur als beste Hauptdarstellerin, sondern auch als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wird. So geschehen 2022 im kosovarischen Pristina, wo die Albanerin Rina Krasniqi in ihrer Rolle als sogenannte Schwurjungfrau in Bujar Alimanis viertem Spielfilm die Jury als Mann wie als Frau gleichermaßen begeisterte. Noch heute gibt es in den abgelegenen Bergregionen des kleinen Balkanstaates den Brauch, dass Frauen als Männer leben dürfen, wenn sie sexuellen Beziehungen, Ehe und Kindern abschwören. Sie werden dann in die Gesellschaft der Männer mit allen deren Rechten aufgenommen. Wie sich das anfühlt, transportiert Rina Krasniqi mit bemerkenswerter Einfühlungskraft. Sie ist als Luana/Jack das Kraftzentrum des Films, der ebenso archaisch wie modern daherkommt, mit Anschlüssen an aktuelle Gender-Debatten.

Das Kinderspiel zu Beginn ist so fröhlich wie aufschlussreich. Zwei Mannschaften füllen Wasser um die Wette in eine große Ballonflasche. Doch die einen erweisen sich als schlechte Verlierer. Luana, das einzige Mädchen (in jungen Jahren Shkurte Sylejmani, später Rina Krasniqi), hätte in der Siegermannschaft gar nicht mitspielen dürfen, schimpfen sie. Ganz einfach deshalb, weil sie wegen ihres Geschlechts von solch unschuldigen Vergnügungen prinzipiell ausgeschlossen ist. Frauen haben es schwer in den Regionen, in denen sich die Menschen nicht den staatlichen Gesetzen, sondern dem traditionellen Kodex des Kanun unterwerfen. Sie werden zwangsverheiratet und müssen ihren Männern bedingungslos dienen. Sogar erschießen darf der Ehegatte sie, wenn sie nicht gehorchen. Und doch gibt es innerhalb dieses streng patriarchalischen Systems ein Schlupfloch, das sogar von den Herren der Schöpfung akzeptiert wird: das Leben als Mannfrau.

Schon öfter hat diese einzigartige Tradition Schriftsteller und Filmemacher fasziniert. Die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro griff sie in der Kurzgeschichte Die albanische Jungfrau auf, es gibt mehrere Dokus und den Spielfilm Sworn Virgin (2015) von Laura Bispuri, in dem eine zweifache Transformation gezeigt wird, von der Frau zum Mann und wieder zurück, als die Heldin im Ausland mit der Tradition ihrer Heimat bricht. Im Unterschied dazu stellen der aus Albanien stammende Regisseur Bujar Alimani und die deutsche Drehbuchautorin Katja Kittendorf das Phänomen der Mannfrauen in einen größeren Kontext. Auf drei Zeitebenen – 1958, 1968 und 1991 – zeichnen sie das epische Porträt eines Landes, das als das ärmste in Europa gilt und fast ein halbes Jahrhundert von dem Stalinisten und späteren Maoisten Enver Hoxha in eine obskure Isolation gedrängt wurde. Dabei gerät der Film trotz klarer Positionierung nicht zur Abrechnung. Er will verstehen helfen und nähert sich dem archaischen Leben über ethnografische Bestandsaufnahmen, statt aus einer westlichen Sicht den Stab zu brechen.

Ähnlich wie bei einigen Werken der Brüder Taviani, etwa Padre Padrone (1997), entsteht so eine dramatische Wucht, die das Leben und die Tragik der Menschen auch aus der sie formenden Landschaft begreift. Kameramann Jörg Widmer (Inglourious Basterds, 2009) feiert die albanischen Berge im Wechsel der Jahres- und Tageszeiten. Schroff stehen sie da, Zeugen eines kargen Lebens, aber auch zugewandt in sommerlichem Grün, idyllisch, mit kristallklaren Bächen und Flüssen, dann wieder majestätisch still unter einhüllender Schneedecke. Ein andermal nimmt die Weite einer Hochebene Anleihen beim Western, der mit seinen Pferden und Gewehren das Gesetz der Blutrache beschwört. Nicht immer formen sich die unterschiedlichen Elemente zu einem Ganzen. Zuweilen spürt man den übergroßen Ehrgeiz hinter dem filmischen Projekt, das von Produzentin Anita Elsani bereits 2008 angestoßen wurde.

Über weite Passagen funktioniert der Film jedoch als packendes Drama und vor allem als Charakterstudie einer mutigen Frau, die nicht als strahlende Heldin das Banner der Emanzipation vor sich herträgt, aber aus den gegebenen Umständen das Beste macht. Hauptdarstellerin Rina Krasniqi verleiht ihrer Figur eine stille Kraft. Ihr Rollenwechsel zum Mann ist auch deshalb so glaubwürdig, weil sie ihrer Luana „männliche“ Zielstrebigkeit und Entschlossenheit mitgibt – und ihrem Jack „weibliche“ Nachdenklichkeit und Sanftmut. Ihre Darstellung changiert zwischen den Polen der Geschlechterdualität und lässt die Spekulation nicht abwegig erscheinen, dass es mitunter auch ein Verdienst von Mannfrauen wie ihr ist, wenn wir gegen Ende dasselbe Kinderspiel wie am Anfang sehen, aber unter neuen Vorzeichen: Mädchen und Jungen sind in beiden Mannschaften wie selbstverständlich vertreten.

Luanas Schwur (2021)

1958 in Albanien: Eine arrangierte Ehe nach alter Tradition zwingt Luana, ihre Liebe zu Agim, dem Sohn kommunistischer Verräter, zu verleugnen, der auf das Land — das Dorf von Luana und ihrer Familie — verbannt wurde. Luana tut alles, um ihrem Vater und der Tradition zu gefallen. Sie kennt die Regeln des Kanun und ist bereit, ihre Gefühle für Agim zu opfern und der Tradition zu folgen. Doch sehr bald merkt sie, dass das Wort einer Frau nicht zählt und der Kanun den Männern zugute kommen soll. Sie hat keine andere Wahl, als einer von ihnen zu sein. Ein Mann zu werden.

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Meinungen

wignanak-hp · 09.03.2023

Ein unglaublich berührender und wahrhaftiger Film!