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Chinonye Chukwu schildert in „Till – Kampf um die Wahrheit“ eine erschütternde reale Begebenheit – und entwickelt ein alternatives Hollywood-Kino.

Till - Kampf um die Wahrheit (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Wir müssen hinsehen

Der Film „Till – Kampf um die Wahrheit“ beginnt mit Aufnahmen, die in ihren strahlenden Farben an das Hollywood-Kino vergangener Zeiten erinnern: Die junge Witwe Mamie Till (Danielle Deadwyler) und ihr 14-jähriger Sohn Emmett (Jalyn Hall) leben Mitte der 1950er Jahre in Chicago und fahren in ein Kaufhaus in der Innenstadt. Der Junge wirkt fröhlich und unbeschwert; seiner Mutter ist indes deutlich anzumerken, dass sie den Rassismus und die damit verbundenen potenziellen Gefahren in ihrem Umfeld jederzeit wahrnimmt. Wenn sich die Kamera auf Mamies Gesicht fokussiert, gibt auch der Score bereits eine unheilvolle Vorahnung.

Emmett will in diesem Sommer seine Cousins in Money, Mississippi besuchen. Er müsse sich dort „ganz klein“ machen, gibt Mamie ihrem Sohn mit auf den Weg – im Wissen, dass die Situation für Schwarze in jenem Bundesstatt noch wesentlich unsicherer ist als in Illinois. Als Stadtmensch lernt der Teenager das Leben auf dem Land und die harte Arbeit auf einem Baumwollfeld kennen. In einem kleinen Lebensmittelgeschäft, das von Weißen betrieben wird, spricht er beim Bezahlen die Verkäuferin Carolyn Bryant (Haley Bennett) an – sie sehe aus wie ein Filmstar. Als sie wenig später entrüstet aus dem Laden tritt, lässt er sich unbedarft zu einem Pfeifen hinreißen. Die junge Frau holt daraufhin ihre Waffe hervor; Emmett und die anderen Jungs ergreifen die Flucht.

Einige Tage später stehen zwei weiße Männer vor dem Haus von Emmetts Verwandten und fordern mit Waffengewalt, dass Emmett mit ihnen mitkommt. Hier zeigt sich die Machtlosigkeit, der Schwarze zu jener Zeit ausgesetzt waren. Niemand schützte sie vor derartigen Übergriffen durch Weiße. Emmett wird entführt; bald darauf wird seine Leiche gefunden. Die Handlung des Films basiert auf einem realen Fall, der damals für Schlagzeilen sorgte – auch weil Mamie Till darauf bestand, dass ihr Sohn in einem offenen Sarg beerdigt wird, damit die ganze Welt sehen kann, was dem 14-Jährigen angetan wurde. Auf den Einwand „Ich kann nicht hinsehen“, den viele hervorbringen, entgegnet die trauernde Mutter hier: „Wir müssen!“

Wie seine Protagonistin ist auch der Film bewusst konfrontativ. Die Regisseurin Chinonye Chukwu, die für das Drama Clemency (2019) auf dem Sundance Film Festival als erste Afroamerikanerin mit dem Grand Jury Prize im Spielfilmwettbewerb ausgezeichnet wurde, erzählt auf kraftvolle Weise, wie sich Mamie Till gezwungenermaßen zu einer Kämpferin entwickelt. Ihr Einsatz trug maßgeblich zur Bürgerrechtsbewegung in den USA bei. Danielle Deadwyler verkörpert die Rolle mit beeindruckender Hingabe – unterstützt von einem großartigen Cast, zu dem auch Produzentin Whoopi Goldberg als Mamies Mutter gehört.

Till – Kampf um die Wahrheit steckt voller Wut. Ähnlich wie Selma (2014) von Ava DuVernay steht er für ein engagiertes politisches Kino, das Bilder für die jüngere Historie sucht und findet. Während die Farben und auch die emotionale Musik an Klassiker des US-Studiosystems denken lassen, ist der Film nicht einfach eine Kopie dieser Werke – vielmehr eine Revision. In der Kameraarbeit verzichten Chukwu und der Bildgestalter Bobby Bukowski oft auf Establishing Shots und Totalen; ebenso werden die Männer, die den Lynchmord an Emmett verüben, kaum erfasst.

Der Film zeigt nicht die Welt, die uns das klassische Hollywood als das Leben verkaufen wollte – und er interessiert sich nicht für die Täter, die lange genug im Mittelpunkt standen. Auch wenn Carolyn Bryant später vor Gericht ihre extrem verfälschte Version der Begegnung mit Emmett schildert, verlassen wir gemeinsam mit Mamie den Saal. Hier werden nicht die alten Geschichten fortgeführt, sondern neue Perspektiven (auf das Alte, Verzerrte) eröffnet. Und ja – wir dürfen, wir sollen und wir müssen hinsehen.

Till - Kampf um die Wahrheit (2022)

Ein Film über Mamie Till Mobleys Streben nach Gerechtigkeit für ihren Sohn Emmett Till, der 1955 gelyncht wurde, als er seine Cousins in Mississippi besuchte.

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