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Mit „Les Indésirables“ setzt Ladj Ly sein politisches Kino aus den Pariser Banlieues fort – und zeigt eine engagierte junge Frau, die als Bürgermeisterin kandidiert.

Les Indésirables (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Die Wünsche der Unerwünschten

Mit seinem Spielfilmdebüt „Die Wütenden – Les Misérables“ (2019) sorgte der 1978 in Mali geborene und in der französischen Gemeinde Montfermeil, etwa 20 km östlich von Paris, aufgewachsene Regisseur Ladj Ly bei den damaligen Filmfestspielen von Cannes für Furore. Das Werk, das sich ohne Schönfärberei mit den Lebensverhältnissen der Menschen in den Banlieues auseinandersetzt, wurde mit dem Jurypreis ausgezeichnet und erhielt später eine Oscar-Nominierung.

Der von den 2005 in Frankreich stattfindenden Unruhen inspirierte Film stellt bereits in seinem Titel einen Bezug zu dem ebenfalls in Montfermeil angesiedelten Romanklassiker Die Elenden (im Original: Les Misérables) von Victor Hugo aus dem Jahr 1862 her. Elend und Wut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung sind (leider) zeitlose Themen, die Ly mit kämpferischer Einstellung in überaus starken Bildern erfasst.

Nun folgt mit Les Indésirables Lys neue Regiearbeit. Schon die Drohnenfahrt zu Beginn wirft uns mitten hinein in die Welt, die der Filmemacher aus eigener Erfahrung kennt – was diesem Werk, wie auch dem Vorgänger, stets anzumerken ist. Wir hören Bau- und Verkehrslärm und landen in einer kleinen Wohnung in einem der oberen Stockwerke eines sichtlich baufälligen Hochhauses.

Hier lebt Haby (Anta Diaw), die gerade ihre Großmutter verloren hat. Wenn der Sarg nach der Trauerfeier umständlich durch das viel zu enge Treppenhaus befördert werden muss, weil die Fahrstühle seit langer Zeit defekt sind, wird sehr greifbar und prägnant die mangelnde Wohnqualität der Leute in der Gemeinde veranschaulicht. „Wie können wir an einem Ort wie diesem leben und sterben?“, wird Haby voller Verzweiflung gefragt.

Direkt im Anschluss an diese Sequenz kommt es zu einem weiteren wuchtigen Moment: Ein Haus wird in Anwesenheit des Pariser Bürgermeisters gesprengt – und inmitten der heftigen Wolke aus Staub und Schmutz erleidet der Politiker einen Herzinfarkt. Als interimistischer Nachfolger wird eilig der hauptberuflich als Kinderarzt tätige Pierre (Alexis Manenti) eingesetzt. Dieser fängt alsbald an, hart durchzugreifen – und dabei insbesondere die angeblich so gefährliche Jugend in ihren Rechten einzuschränken. Als Pierre offiziell zur Wahl aufgestellt wird, tritt Haby, die als Praktikantin im Archiv des Rathauses arbeitet, kurzerhand als Gegenkandidatin an.

Das Drehbuch, das Ly zusammen mit Giordano Gederlini geschrieben hat, lässt diverse Graustufen zu. Auch wenn klar ist, dass der Film auf Habys Seite steht und das rigorose Vorgehen von Pierre ablehnt, wird ein eindimensionales Gut-Böse-Schema vermieden. Wir sehen, wie Pierre sich bedrängt und zunehmend von der großen Verantwortung überfordert fühlt. Und wir erleben, wie es in Habys Umfeld Uneinigkeit über die angemessene Reaktion auf die aktuelle Politik gibt.

So hält etwa Habys bester Freund Blaz (Aristote Luyindula) ihre Versuche, selbst politisch aktiv zu werden, um auf diesem Wege etwas zu verändern, für völlig sinnlos. Roger (Steve Tientcheu), ein afrikanischer Migrant, der für den Bürgermeister tätig ist, will indes mit Haby zusammenarbeiten. Diese glaubt jedoch, dass er die Interessen der Familien in den Banlieues nicht ernsthaft vertritt. So habe sie sich Frankreich ganz und gar nicht vorgestellt, meint wiederum eine junge Kollegin von Haby, die mit ihrem Vater aus Syrien geflohen ist – und sich für eine (selbstverständlich medial äußerst wirksame) Einladung von Pierre zum familiären Weihnachtsessen empfänglich zeigt. Dort kommt es schließlich zu einem dramatischen Vorfall.

Zuweilen mutet Les Indésirables etwas überfrachtet an. Figuren und Handlungsstränge geraten aus dem Fokus. In vielen Momenten erreicht Ly aber die Stärke, die sein gefeiertes Debüt auszeichnete. Zum Beispiel, wenn auf Pierres Anordnung hin das Hochhaus, in dem Haby wohnt, von der Polizei zwangsgeräumt wird und sich dabei die Brutalität des Staates offenbart. Innerhalb kürzester Zeit müssen die Leute ihre Wohnungen verlassen. Habseligkeiten werden hastig eingepackt; Matratzen und Möbelstücke werden aus den Fenstern geworfen. In diesen Bildern demonstriert Ly, dass er auf virtuose Weise konfrontatives Kino voller Zorn und mit dem Willen, etwas zu bewegen, schaffen kann.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Les Indésirables (2023)

Nach dem plötzlichen Tod des Bürgermeisters einer Stadt wird Pierre, ein idealistischer junger Arzt, zu seinem Nachfolger ernannt. Er will die Politik seines Vorgängers fortsetzen, der von der Sanierung des Arbeiterviertels träumte. Haby, eine junge Französin malischer Herkunft, die in einem der heruntergekommenen Hochhäuser lebt, weigert sich, ihre Familie aus dem Viertel, in dem sie aufgewachsen ist, vertreiben zu sehen.

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