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Christos Nikou ergründet in seinem sehenswerten Spielfilmdebüt die identitätsstiftende und -erschütternde Funktion von Erinnerungen.

Apples (2020)

Eine Filmkritik von Dobrila Kontić

Schnappschüsse aus dem Erinnerungsprogramm

Es erwischt die Menschen plötzlich und ohne Vorwarnung: Gerade gingen sie noch den alltäglichen Aktivitäten nach, die ihr Leben formen, und im nächsten Moment wissen sie nicht mehr, weshalb und wie sie hergekommen, geschweige denn wer sie überhaupt sind. Alle Erinnerungen sind erloschen. Das ist die interessante Prämisse, die der griechische Film „Apples“ (noch vor der Covid-19-Pandemie entstanden) präsentiert. Einer der vom rätselhaften Virus Betroffenen ist Aris (Aris Servetalis), der zu Beginn dieses Films noch in seiner dunklen Wohnung und beim Spazieren zu sehen ist und sich und sein Leben nur eine Busfahrt später nicht mehr kennt. Einen Ausweis hat er nicht dabei.

Aris wird in eine Klinik gebracht, dessen leitendes Ärzteteam (Anna Kalaitzidou und Argyris Bakirtzis) ihm wenig Hoffnung machen kann: Heilen könne man die Auswirkungen dieses kaum erforschten Virus bislang nicht, und die Erinnerungen scheinen unwiederbringlich verloren. Im Idealfall werden die Betroffenen von Angehörigen gesucht und gefunden, sofern diese nicht auch von der um sich greifenden Amnesie heimgesucht worden sind. Da Aris zu denen gehört, die nach Wochen nicht abgeholt wurden, bietet man ihm die Teilnahme an einem Programm zur Schaffung einer neuen Identität an.

Von hier an entfaltet Regisseur Christos Nikou in seinem Spielfilmdebüt ein Szenario, das in seiner Skurrilität an die absurden Versuchsanordnungen früherer Filme von Yorgos Lanthimos erinnert. Bei dessen Dogtooth (2009) hat Nikou ihm gar als Regieassistent zur Seite gestanden. Doch Apples schlägt einen eigenen Weg ein: In nachdenklicher Stille und mit sanftem Humor ergründet der Film die enorme Bedeutung von Erinnerungen in der Formung unserer Identität und welche klaffende existenzielle Lücke ihre plötzliche Absenz hinterlässt. Dabei ist die Momentaufnahme, die zur Erinnerungsformung gehört, ein stilweisendes Mittel in Apples, dessen 4:3-Format und behutsam geführte Kamera Bilder von hintergründiger Einfachheit zeigen.

Im Folgenden schildert Apples, wie Aris das Leben neu zu erlernen versucht. Dafür haben ihm die Ärzte eine Wohnung zugewiesen, ihm etwas Geld gegeben und ihn mit einer Polaroidkamera ausgestattet. Regelmäßig erreichen ihn Tonbänder mit Aufgaben, bei deren Umsetzung er sich fotografieren soll. Aris tut, wie ihm geheißen – angefangen beim Radfahren, das man ja bekanntlich nie verlernt. Er geht als Astronaut verkleidet zu einer Kostümparty, versucht zumindest, im Schwimmbad vom Zehn-Meter-Brett zu springen, und stellt sich auch befremdlichen Aufgaben wie dem Besuch eines Stripclubs. Den einzigen Halt scheint er beim Verspeisen unzähliger Äpfel zu finden, eine Vorliebe, die ihm trotz Gedächtnisverlust anscheinend erhalten geblieben ist. Beim ebenfalls angewiesenen Kinobesuch lernt er dann eine Frau (Sofia Georgovassili) kennen, die sich wie er eine neue Identität durch diese programmatische Erinnerungsschaffung erarbeiten muss. Anders als Aris haftet ihr dabei eine erfrischende Unbekümmertheit an.

Es gibt eine Wendung, die Apples durch kleine Auffälligkeiten immer wieder andeutet. Und doch bleibt diese Erzählung in ihrer bestechenden Einfachheit fesselnd und vermittelt auf berührende Weise, dass Erinnerungen Identitäten kreieren und zugleich erschüttern können – aber ihre Aufrechterhaltung es dennoch wert ist.

Apples (2020)

Der allein lebende Aris, ein Mann in seinen Dreißigern, wird eines Tages von einer Amnesie befallen, die sich anscheinend über die ganze Stadt ausbreitet. Während der Behandlung seiner Erkrankung trifft er auf eine Frau, die unter denselben Symptomen leidet — und diese Begegnung gibt seinem Leben eine neue Richtung.

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