Alpen

Eine Filmkritik von Festivalkritik Venedig 2011 von Patrick Wellinski

Wenn die Engel Trauer tragen

Alps members must declare in advance things they are unwilling to do by filling out Form 1 (e.g. kissing, lifting weights, travelling etc.)
Es passieren viele skurrile, schräge und manchmal sehr drastische Dinge in Alps, dem neuen Film des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos. Die titelgebenden „Alps“ sind dabei eine Gruppe von vier Menschen, die es sich zum Auftrag gemacht haben, Angehörigen einer verstorbenen Person einen Ersatz anzubieten. Dazu schlüpfen sie in die Rolle der Toten und begleiten die Familie durch die stärkste Phase der Trauer. Zu den Mitgliedern der Gruppe gehört auch eine namenlose Krankenschwester (Angelikki Papoulia), die gerade in die Rolle einer verstorbenen Teenagerin schlüpft, die bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.

Alps members can never talk about Alps activities with non-Alps members

Mit seiner neusten Regiearbeit bestätigt Lanthimos seinen Ruf als eine der interessantesten Stimmen des europäischen Autorenkinos. Sein letzter Film Dogtooth, mit dem er nicht nur die Un Certain Regard-Reihe in Cannes gewann, sondern auch unerwartet für den Oscar nominiert wurde, ließ bereits ahnen, dass hier jemand einen ganz eigenen Filmkosmos entwirft. Dieser Kosmos folgt speziellen Regeln und Gesetzen. So mutet die Umwelt, die der Film zeigt – wie schon in Dogtooth – real an, doch wirken alle handelnden Figuren ihrer emotionalen Intelligenz beraubt. Allein die seltsame Grundkonstellation, dass Menschen andere Menschen dafür engagieren, um ihre Verstorbenen, einer Soap-Opera gleich, wiederauferstehen zu lassen, riskiert als große Lächerlichkeit enttarnt zu werden. Aber unter Lanthimos‘ Regie wirkt alles selbstverständlich, so dass man die Logik bzw. die Absurdität der Situation nicht hinterfragt.

Jede Einstellung ist streng durchgeplant. Lanthimos ist kein Regisseur der Improvisation. Er überlässt nichts dem Zufall. Die abgeschnittenen Gesichter während vieler Dialoge, die dezentrale Bildkadrierung, die elliptische Montage der Erzählung – das alles ordnet sich sehr streng seiner Vision unter. Alps ist ein Film, der von sehnsüchtiger Nähe und dringender Zuneigung sprechen möchte, dies aber durch die komplette Abwesenheit aller liebenswerten Emotionalität inszeniert.

Alps members must never get emotionally involved with clients, or have intimate relations with them.

Die Interaktion zwischen den Charakteren ist geprägt von einem dominanten Umgangston, einer abweisenden Kälte und barschen Tonart. Wie der Vater in Dogtooth seinen Kindern eine neue Grammatik der Welt lehrte, indem er ihnen Worte beibrachte und die Wortbedeutungen neu programmierte, so übernimmt das in seinem neuen Film der Anführer der Alps, ein Gymnastiklehrer, der sich den Namen Mont Blanc verpasst hat. Er ist der Zeremonienmeister, diktiert die Regeln innerhalb der Gruppe und ist gleichzeitig auch Richter, wenn gegen diese Regeln verstoßen wird. Doch diese ständige Neu-Programmierung des Verhaltens und damit auch des Weltverständnisses, setzt sich hier auch außerhalb der Gruppentreffen fort. Wenn beispielsweise die Krankenschwester einen Klienten besucht, für den sie seine tote kanadische Freundin mimt, dann diktiert er ihr langsam den Dialog, den er mit ihr durchspielen möchte. Lanthimos zeigt diese „Probe“ und dann die „Aufführung“, als penibel genaue Beobachtung dieses schrägen Rollenspiels. In seinen Filmen ist ein schreiender Schmerz der Verzweiflung spürbar, eine ultimative Resignation und Hilflosigkeit, die alle Figuren herumtreiben lässt. Warum sonst würden sie jedwede traditionellen Handlungsmuster über Bord werfen und sich freiwillig unter die Gesetze einer erniedrigenden Diktatur stellen. Vielleicht, weil die eine Fremdbestimmung der anderen weicht und sie nur auf den ersten Blick so fundamental unterschiedlich sind. Wer den Menschen wie konditioniert, ist nicht die Frage, sondern warum wir niemals hinterfragen, warum wir zum Apfel gerade Apfel sagen. Und wieso die beste Reaktion auf Trauer immer Verzweiflung sein soll. Alps ist daher auch eine mathematische Versuchsanordnung zur Verlustbewältigung.

Alps members: Must have some basic knowledge of psychology and sociology.

Nach der Vorführung von Alps hörte man bereits die ersten Rufe von Kollegen, die nach Dogtooth und dem Erfolg von Athina Rachel Tsangaris Attenberg, eine New Greek Wave ausrufen wollten. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Lanthimos und Tsangari zwei sehr aufregende Regisseure sind und langsam eine gemeinsame Filmsprache entwickeln, die mit der Zeit vielleicht eine Status, wie den der Berliner Schule oder der Dogma-Bewegung erreichen könnte. Dafür sprechen, die ästhetischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten ihrer Projekte. So hat Tsangari Alps produziert. Und Lanthimos spielte in Attenberg eine kleine Rolle. Beide arbeiten auch mit einem kleinen, nur selten wechselnden Darstellerensemble, dessen prägendstes Gesicht sicherlich die großartig ausdrucksstarke Angelikki Papoudria ist. Daher sollte man beide Filmemacher und ihre Arbeit im Auge behalten, weil sie wirklich aufregendes Kino machen. Doch ob das nun sofort eine ganze Welle von Regisseuren und Filmen dieser Qualität mit sich bringen wird, bleibt abzuwarten.

Alps members must respect one another.

Alps balanciert gekonnt auf einer dünnen Linie zwischen absurder Situationskomik und Momentaufnahmen großer Tragik. Doch am Ende ist, wie in Athina Rachel Tsangaris Attenberg, der Film die Innenansicht einer trauernden Frau, die mit der Hilfe, die sie anderen Menschen zukommen lässt, versucht ihre eigene Trauer zu überkommen. Auch sie hat einen Verlust erlitten, hat jemanden sehr nahestehendes unwiederbringlich verloren. Deshalb sucht sie nach irgendeinem Halt, der ihr aber nicht geboten wird. Die Frage steht im Raum: Wer hilft den Engeln, wenn sie Trauer tragen?

(Festivalkritik Venedig 2011 von Patrick Wellinski)

Alpen

Es passieren viele skurrile, schräge und manchmal sehr drastische Dinge in „Alps“, dem neuen Film des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos. Die titelgebenden „Alps“ sind dabei eine Gruppe von vier Menschen, die es sich zum Auftrag gemacht haben, Angehörigen einer verstorbenen Person einen Ersatz anzubieten. Dazu schlüpfen sie in die Rolle der Toten und begleiten die Familie durch die stärkste Phase der Trauer. Zu den Mitgliedern der Gruppe gehört auch eine namenlose Krankenschwester (Angelikki Papoulia), die gerade in die Rolle einer verstorbenen Teenagerin schlüpft, welche bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.
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