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Nicholas Winton rettete mehr als 650 jüdische Kinder vor den Nazis. Anthony Hopkins und Johnny Flynn verkörpern den Briten nun in diesem Film, der gegen das Vergessen kämpft, jedoch selbst kaum in Erinnerung bleiben dürfte.

One Life (2023)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Erinnern und vergessen

Der Spruch „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“ aus dem jüdischen Talmud ist spätestens seit Steven SpielbergsSchindlers Liste“ ein immer wieder geäußerter, wenn es um die Rettung von Menschen speziell im Kontext des Holocaust geht. Er wird auch in „One Life“ zitiert. Der erste Spielfilm von James Hawes, der zuvor bei Serien wie „Snowpiercer“ und „Penny Dreadful“ auf dem Regiestuhl saß, erzählt die wahre Geschichte von Nicholas Winton (1909-2015), der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mehr als 650 jüdische Kinder aus Prag nach Großbritannien brachte und sie so vor den Vernichtungslagern der Nazis rettete.

Der Einstieg in diese so dramatische Geschichte gerät dabei leider reichlich spröde und so, wie man es vom Großteil aller Filme mit historischem Kontext kennt: Ein schnöder Text informiert über die Vorereignisse, in diesem Fall die Annexion des Sudetenlandes durch Deutschland Ende 1938 und die damit verbundene Flucht tausender dort lebender Menschen in die tschechische Hauptstadt Prag. Der Londoner Börsenmakler Nicholas Winton (in den Vergangenheitspassagen gespielt von Johnny Flynn) will ihnen helfen, reist nach Tschechien und bemüht sich vor Ort mit anderen darum, zumindest die Kinder, die in Flüchtlingslagern in jämmerlichen Verhältnissen hausen, per Zug in sein Heimatland zu bringen.

Die britische Bürokratie legt ihm dabei mehr als nur einen Stein in den Weg: Visa gibt es erst, wenn Lebenslauf, eine Pflegefamilie und 500 Pfund für die spätere Rückführung aufgetrieben sind – pro Kind. Das Drehbuch von Lucinda Coxon (The Danish Girl), Nick Drake (Making Noise Quietly) und Barbara Winton, der realen Tochter des Protagonisten, bringt hier eine erfrischend aktuelle Note ins Geschehen, indem es deutliche Bezüge zur aktuellen Migrationsdebatte und Abschottungspolitik Englands aufmacht – mit deutlicher Kritik an deren Empathielosigkeit.

Zwischendurch und vor allem im letzten Drittel blickt One Life auch in die späten Achtzigerjahre, wo Winton (nun gespielt von Anthony Hopkins) im hohen Alter einen neuen Ort für seine umfassenden Aufzeichnungen von damals sucht – und sich selbst Vorwürfe macht, nicht noch mehr Menschen gerettet zu haben. Das Schauspiel des 86-Jährigen ist das klare Highlight des Films, kommt über weite Strecken angenehm subtil daher und mündet in einem emotionalen Moment, der durchaus an seine Großleistung in The Father (2020) erinnert.

So oft Winton bei seiner Suche nach einem Abnehmer für seine Aufzeichnungen auch betont, dass es ihm bei der Publikation dieser nie gewürdigten Rettungsgeschichte nicht um ihn gehe: Für den Film selbst gilt dies nicht, der seinen Protagonisten klar ins erzählerische und emotionale Zentrum rückt. Was gut damit korrespondiert, dass sein Umfeld ihm doch immer wieder (zu Recht) entgegnet, dass es keine Prahlerei sei, von der Rettung dieser Menschen zu berichten. Die Geretteten selbst verkommen dabei allerdings weitestgehend zu narrativen Fußnoten, zu leidenden Gestalten ohne tiefes Profil, und auch die Biografien und Schicksale der anderen Retter:innen, die sogar noch länger vor Ort waren als Winton, kommen insgesamt zu kurz: Der Film spricht die eigentlich kollektive Leistung in der Hauptsache ihm zu.

Vor allem aber bewegt sich One Life inszenatorisch nicht aus der Komfortzone heraus, verfällt zuweilen gar in arge Klischees. Natürlich rutscht die ohnehin nüchterne Farbpalette in den Flüchtlingslager-Sequenzen ins nahezu Graue. Natürlich werden emotionale Monologe mit leichten Zooms auf das Gesicht betont. Und natürlich liegt über all dem ein schwermütiger Soundtrack aus melodramatischen Streichern und Piano, der mit aller Mühe deutlich machen will, wie tragisch all das hier ist. Gerade im Vergleich zu Jonathan Glazers The Zone of Interest, der zumindest in einem ähnlichen historischen Kontext spielt, jedoch sowohl erzählerisch als auch formal konventionelle Perspektiven verlässt, tut One Life das zu keiner Sekunde. Trotz seiner hehren Absicht, seine so erzählenswerte Geschichte nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen, wird ihn so wohl exakt dieses Schicksal auf lange Sicht selbst ereilen.

One Life (2023)

Dezember 1938. Der junge Londoner Börsenmakler Nicholas Winton erfährt über einen Freund von den entsetzlichen Zuständen in tschechischen Flüchtlingslagern. Kurzentschlossen fährt er nach Prag und erlebt aus erster Hand, wie jüdische Familien auf der Flucht vor Verfolgung ohne Obdach und Essen ihrem Schicksal ausgeliefert sind. Bestürzt entwickelt er einen waghalsigen Plan. Und so beginnt mit Unterstützung seiner tatkräftigen Mutter in London und einer Hilfsorganisation vor Ort eine beispiellose Rettungsaktion – immer bedroht von der nahenden Invasion der Faschisten. Wie viele Kinder können sie retten, bevor die Grenzen geschlossen werden?

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