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In „Schlamassel“ wirft uns Sylke Enders in die Welt einer Protagonistin, die keinen Halt im Leben zu finden scheint.

Schlamassel (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Schlimmes Glück

Oft widerfährt Hauptfiguren in Dramen ganz außergewöhnlich-überraschend Schlimmes, um unser Mitgefühl zu erregen. Das ist allerdings gar nicht zwangsläufig nötig. Wir können den Schmerz einer (fiktiven) Person auch dann in all seiner Wucht nachvollziehen, wenn er nahe am Leben und vermeintlich alltäglich, vorhersehbar ist. Der Tod der eigenen Großeltern etwa ist in einem gewissen Alter (leider) eine erwartbare Erschütterung – ein Schock mit Ansage. Und doch vermag er uns so heftig zu treffen, als sei es das größte Unrecht, das uns angetan werden kann.

So ergeht es der 32-jährigen Johanna (Mareike Beykirch) in Schlamassel, dem neuen Film von Sylke Enders (Schönefeld Boulevard). Die Geschichte spielt 1997, siebeneinhalb Jahre nach der „Wende“. Als Fotografin bei einer Brandenburger Lokalzeitung hat Johanna quasi den Status einer Praktikantin; als Nebenjob macht sie Bilder für eine nicht sehr geschmackssichere Autohauswerbung. Johanna wirkt unzufrieden, rast- und ratlos. Und dann stirbt die geliebte Großmutter.

Ohne alles ausbuchstabieren zu müssen, lässt uns Enders rasch spüren, dass in Johannas Familie etliches im Argen liegt. Da schweben viele Vorwürfe im Raum. Johanna wird von ihrer Mutter Helga (Lina Wendel) vorgeschickt, das Begräbnis zu besuchen; Helga bleibt dem Ganzen lieber fern. Ihrem Onkel (Hans Jürgen Alf), Helgas Bruder, wirft Johanna in versammelter Runde vor, das Erbe an sich gerissen zu haben. Und alle scheinen gern auf Johanna herumzuhacken. Auch mit ihrer älteren Schwester Caro (Anja Schneider) zofft sie sich, während sie zu ihrem Teenager-Neffen Maik (Tristán López) und dessen Clique einen Draht zu haben scheint.

Wie Enders diese Personen mit zahlreichen Ecken und Kanten zeichnet, wie sie glaubhaft diese frustrierende Mischung aus Enttäuschung, Verletztheit und allmählich einsetzender Gleichgültigkeit im familiären Kreis einfängt, die ein bitterer Gegenentwurf zur Bilderbuchfamilie ist, in der natürlich alle immer nur unheimlich stolz aufeinander sind – das ist sehr fein beobachtet.

Hinzu kommt eine Dynamik, die mit dem Fund eines Fotos beginnt. Zu sehen ist darauf eine KZ-Aufseherin. Johanna macht die mittlerweile 80-jährige Anneliese Deckert (Lore Stefanek) ausfindig und konfrontiert diese mit der Aufnahme. Warum sie das tut? Vielleicht, um das Gefühl zu haben, ganz eindeutig auf der richtigen Seite zu stehen und somit klar die Überlegene in einem Konflikt zu sein – im Gegensatz zu den diffusen Problemen in ihrer eigenen Familie. „Hier kann sie sich erregen, empören, ihre unerlöste Spannung in kleinen, oft aggressiven Portionen abführen“, meint Enders in einem Statement.

Johanna fängt an, Anneliese Fragen zu stellen – und diese antwortet. Während Johanna bei der einen Tochter von Anneliese, Hedi (Michaela Caspar), und deren Mann Herbert (Thomas Dehler) auf Feindseligkeit stößt, ist die andere Tochter, Renate (Margarete Tiesel), ihr durchaus wohlgesinnt. Gegen Ende gibt es ein Gespräch zwischen Johanna und Renate über Großmütter, Mütter, Töchter und Enkelinnen, über das Mit- und Gegeneinander der Generationen, in dem Hauptdarstellerin Mareike Beykirch und die mit menschlichen Abgründen wohlvertraute Margarete Tiesel (Paradies: Liebe) eine unfassbar wahrhaftige Leistung an emotionalen Zwischentönen erbringen.

„Du bist viel zu in Ordnung, ich bin’s nicht“, meint Johanna an einer Stelle abwehrend zu ihrem jüngeren Kollegen Dirk (Leonardo Lukanow), als dieser mit ihr flirtet. Sie empfindet sich selbst als völlig kaputt. Alles entspricht dem titelgebenden Schlamassel, der indes „schlimmes Glück“ bedeutet. Eine wunderbare Ambivalenz, die perfekt zu diesem vielschichtigen Film passt.

Schlamassel (2023)

1997. 7 ½ Jahre nach der „Wende“.  Das Jahr, in dem Johannas Oma stirbt. 
Johannas Seele tobt. Egal, was sie tut, es ist falsch. Auf einmal soll es falsch sein, dem Erbschleicher von Onkel auf Omas Begräbnis mal die Meinung zu geigen. Johanna gibt sich keine Zeit, nicht zum Trauern und nicht, um zur Ruhe zu kommen. Zerrieben von ambivalenten Gefühlen läuft sie sich privat und bei der Arbeit als bessere Praktikantin wund, meist hinter ihrer Kamera versteckt. 
Als das Originalfoto einer KZ-Aufseherin in ihre Hände gerät, ergreift sie die Gelegenheit und rückt der mittlerweile achtzigjährigen Anneliese Deckert auf den Pelz. Auf dem Weg zur Deckert ahnt Johanna nicht, dass sie gleich auf die ganze Familie stößt und mit der Rückgabe des Fotos einen Wirbel entfacht. (Quelle: déjà-vu Film)

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