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In „Tamara“ zeigt Jonas Walter eine Frau, die in der Bundesrepublik sozialisiert wurde – und dennoch familienbedingt von der DDR geprägt ist.

Tamara (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Flucht und Wahrheit

Eine junge Frau in einem schicken blauen Hosenanzug und mit schwarzem Hut schiebt ihren Rollkoffer durch eine abendliche ostdeutsche Kleinstadt. An einer Tankstelle kauft sie einen Blumenstrauß. Irgendwie wirkt sie wie ein Fremdkörper – seltsam fehl am Platz in dieser ruhigen Gegend, in der in den späten Stunden auf den Straßen sehr wenig los zu sein scheint.

Bald erfahren wir, dass es sich bei der Frau, der wir folgen, um eine Heimkehrerin handelt: Die titelgebende Protagonistin Tamara (Linda Pöppel) ist „zurück von der Front“, wie es heißt. Sie ist zum Studium nach Berlin gegangen – und hat sich seither offenbar nur selten in ihrem Heimatort blicken lassen. „Jetzt bist du erst mal hier. Vielleicht wird’s ja schön“, meint ihr Vater Karl (Jörg Witte) über ihren Aufenthalt in einem Selbstgespräch, das er (wie so oft) auf Band aufnimmt. Das Verhältnis zwischen Tamara und ihrer Mutter Barbara (Lina Wendel) mutet ein bisschen weniger entspannt an, etwa wenn Barbara leicht pikiert feststellt, dass ihre Tochter im Supermarkt nun auf Bioprodukte achtet. Dass ihre Eltern womöglich ihr Haus verlieren könnten und sich kaum um dieses Problem kümmern, sorgt bei Tamara für erhebliche Unruhe.

Die 1990 geborene Titelheldin aus Tamara ist, ähnlich wie der ein paar Jahre ältere Drehbuchautor und Regisseur Jonas Walter, Teil der Nachwendegeneration. Sie hat die DDR nicht erlebt – und ist doch insbesondere durch ihre Eltern stark von dieser geprägt. Tamara floh einst aus der ostdeutschen Provinz, muss sich aber plötzlich mit ihrer Familiengeschichte und mit den Lügen, die über viele Jahre aufrechterhalten wurden, auseinandersetzen. Walter lässt dabei diverse biografische Elemente in sein Skript und in seine Inszenierung einfließen. Sein Vater kam bei einem Unfall ums Leben – und dies stößt auch Karl zu, den Tamara als „bravsten Bürger, den man sich vorstellen kann“ und als „zarten Menschen“ beschreibt.

Mutter und Tochter müssen sich daraufhin mit den Absurditäten und der verblüffenden Kälte der Bürokratie befassen. Und Tamara wird zudem mit einer Tatsache konfrontiert, die ihr ganzes bisheriges Dasein auf den Kopf stellt. Auch dieser Teil basiert auf der Biografie des Filmemachers. Walters Nähe zu dem Stoff, von dem er uns hier erzählt, ist in der Umsetzung deutlich zu spüren – sowohl in den stillen, feinfühligen Momenten als auch in den rohen Ausbrüchen, wenn sich der Drang nach Antworten und die Frustration und Trauer nicht mehr zurückhalten lassen.

„Du knallst hier rein in mein Leben“, wird Tamara an einer Stelle von ihrem etwas älteren früheren Freund Rico (David Bredin) vorgeworfen. Linda Pöppel bringt diese konfrontative Art der Wahlberlinerin ebenso überzeugend zum Ausdruck wie das Sprunghafte und die sensible Seite, die gerade in Verbindung mit dem Vater durchblitzt. Wie auch Barbara, die von Lina Wendel betont beherrscht interpretiert wird, ist Tamara eine äußerst spannende Figur, der wir mit Interesse bei der persönlichen Entwicklung zuschauen.

Tamara (2023)

Wie viele andere junge Menschen in den östlichen Bundesländern verließ auch Tamara in den 2000ern- Jahren ihre Heimat. Um ihr Elternhaus vor dem Verkauf zu retten, kehrt sie nun widerwillig dorthin zurück. Als ihr Vater bei einem Unfall ums Leben kommt, sind sie und ihre Mutter Barbara auf sich selbst zurückgeworfen. Während Barbara gelernt hat zu schweigen, um sich zu schützen, erkennt Tamara die Leerstelle um die eigene Herkunft. Und sie muss sich dem stellen, wovor sie einst weggelaufen ist: ihrer eigenen Geschichte. (Quelle: Filmfestival Max Ophüls Preis 2023)

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