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„Mädchen verliebt sich in Jungen“ – so simpel ließe sich die Handlung von Rainer Sarnets „November“ zusammenfassen, wären da nicht all die Hexen, Geister, Werwölfe und Kratts, die die Romanverfilmung zu einer fantastischen Mär machen.

November (2017)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Sagenhafte Teufelspakte

Filmkritiker neigen dazu, alles schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Was uns der estnische Regisseur Rainer Sarnet nach einem Roman seines Landsmanns Andrus Kivirähk vorführt, hat zumindest den Verfasser dieser Zeilen völlig unvorbereitet getroffen. Es ist ein zauberhaftes Märchen aus einer Zwischenwelt.

Estland, irgendwann im 19. Jahrhundert. Der Wind pfeift, Metall ächzt, ein klappriges Konstrukt schiebt sich ins Bild. Es besteht aus drei alten Sensen und einem Tierschädel, entführt ein Kalb aus einem Stall und fliegt mit seiner Beute wie ein Helikopter durch die Luft. Das Ding ist ein Kratt, ein aus Alltagsgegenständen zusammengewerkeltes Wesen, dem der Teufel (Jaan Tooming) im Tausch gegen eine Menschenseele Geist einhaucht, und gehört dem Bauern Rein (Arvo Kukumägi).

Das Leben auf dem Land ist so hart, wie Mart Taniels wunderschönes Schwarz-Weiß kontrastreich ist. Bauern wie Rein oder Sander (Heino Kalm) hocken mit ihren Kindern Liina (Rea Lest) und Hans (Jörgen Liik) in viel zu niedrigen Stuben. Ihre Kleidung ist abgerissen, die Gesichter starren vor Dreck. Im Gegenlicht, das tagsüber durch die kleinen Fenster dringt, tanzen die Staubkörnchen. Ohne ihre Kratts würden sie den anbrechenden Winter nicht überleben. Doch Rein hat den jüngsten fehlerhaft konstruiert und braucht einen neuen. Ob er den Teufel noch einmal täuschen kann?

Rainer Sarnet entführt uns in eine wundersame Welt, die den Volksglauben wörtlich nimmt. An Allerseelen kehren die Verstorbenen tatsächlich heim, sorgen sich in Prachtgewändern und mit kalkweißen Gesichtern um ihre Hinterlassenschaft, bevor sie als menschengroße Hühner saunieren. Um der Pest, die in Gestalt einer hübschen Frau und später als Ziegenbock ihr Unwesen treibt, ein Schnippchen zu schlagen, ziehen sich die Bauern ihre Hosen und Röcke über die Köpfe. Ja selbst der noch junge Glaube an die Auferstehung scheint nur ein weiteres (Schauer-)Märchen und pragmatisches Mittel zum Zweck. Nach dem Gottesdienst spucken die Kirchgänger die Hostien wieder aus, um daraus Kugeln für die Jagd zu formen. Eine Waffe, in der der Leib Christi stecke, könne sein Ziel schließlich nicht verfehlen. Welch bestechend blasphemische Logik!

In dieser Welt liebt Liina Hans, der nur Augen für die somnambule Tochter (Jette Loona Hermanis) des deutschen Barons (Dieter Laser) hat. Dessen Bedienstete Ints (Taavi Eelmaa) und Luise (Katariina Unt) bedienen sich fleißig an seinem Besitz, schließlich gehöre das Land rechtmäßig den Esten. Ein wenig Politik in dieser bittersüß-grotesken Mär. Jaan (Meelis Rämmeld) macht Luise den Hof, kann sie mit einem aus Schweiß, Achselhaaren und Exkrementen gebackenen Brot aber nicht verzaubern. Wen wundert’s? Schließlich hatte sich die Dorfhexe (Klara Eighorn) mit dem einfältigen Bauern einen Spaß erlaubt.

So abstrus sich all diese kleinen Einzelteile anhören, sie fügen sich schlüssig zusammen. Andrus Kivirähks Roman Rehepapp ehk November widmet jedem Tag des titelgebenden Monats ein Kapitel. Sarnet bastelt einen ruhig mäandernden Erzählfluss daraus. Im Zentrum steht das verhängnisvolle Liebesdreieck zwischen Liina, Hans und der jungen Baroness. Während die Adlige schlafwandelnd am Abgrund steht, sieht ihr Liina mal splitterfasernackt, mal als Wölfin zu. Michal Jacaszeks traurige Streicher, sein sanftes Klavier und die sphärischen Gesänge untermalen schüchtern die Szenerie und deuten auf das Ende hin. Wer Märchen kennt, nicht die zuckersüßen aus dem Haus mit der Maus, sondern diejenigen grimmschen Formats, weiß, wie die Sache ausgeht.

November steht am Abschluss eines Kinojahres, das uns so unterschiedliche Schwarz-Weiß-Filme wie den Hauptmann, 3 Tage in Quiberon, Leto und Cold War bescherte. Passend zur kalten Jahreszeit endet es mit einer poetischen Winterreise voll grandioser Einfälle, voll trauriger, schräger und schlicht schöner Momente.

November (2017)

In seinem Spielfilm „November“ taucht Rainer Sarnet in die winterlichen Landschaft seiner Heimat Estland im 19. Jahrhundert ein und damit auch in eine Welt, in den Geister (dienstbare wie bösartige) und Werwölfe in den Vorstellungen der Menschen höchst reale Wesen sind. Hier verliebt sich die Bauerstochter Liina in Hans, doch die Romanze steht unter einem schlechten Stern.

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Meinungen

Dieter Laser · 02.11.2019

"The Baron" could have been a fascinating and touching character. But the director Rainer Sarnet cheated and betrayed the concept we both had agreed on after my first denial. Cowardly and awkwardly he retreated to his first and denied draft and cut out and destroyed as much as possible of a beautiful performance... very sad. Dieter Laser