2+2=22 [The Alphabet] (2017)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Kein Anfang und kein Ende

Wie ein Besessener füllt Heinz Emigholz Berge von Notizbüchern mit seinen Collagen, Bildern, die er aus Zeitschriften und Katalogen ausschneidet. Dazwischen Seite um Seite seine zackige Handschrift, bis kein freier Zentimeter mehr bleibt. In 2+2=22 [The Alphabet] sind diese Seiten das verbindende Glied zwischen den Sphären.

Für seinen Film – den ersten eines vierteiligen Zyklus – hat Emigholz die Band Kreidler bei den Aufnahmen zu ihrem 2014er Album ABC begleitet. In Tiflis haben sie ein riesiges Studio angemietet: helles Holz, feine Maserung, eine zugunsten der Klangqualität hundertfach aufgefaltete Decke. Im Studio die für Kreidler typische Mischung aus elektronischen und akustischen Instrumenten. Langsam tröpfeln die vier Musiker herein. Thomas Klein setzt sich hinter sein Schlagzeug, im Hintergrund fummelt Andreas Reihse schon am Synthesizer.

Wer da bereits annimmt, dass bei Heinz Emigholz nicht mit einem konventionellen Musikdokumentarfilm zu rechnen ist, behält recht. Nachdem er für Kreidler bereits mehrere experimentelle Musikvideos beisteuerte, dokumentiert der Filmemacher und Künstler nun in fixen Einstellungen den Aufnahmeprozess, der bei dieser Band wenig mit dem Slacker-Image von Rockstars zu tun hat. Das hier ist konzentrierte Arbeit. Die Kamera steht zur Abwechslung aufrecht, der weite Winkel nimmt mehrere Musiker gleichzeitig ins Bild, zeigt die Ebenen, auf denen sich die Bassläufe zu Samples fügen, die konstanten Trommelschläge, das Blip-Blip-Blip des Computers und die Stimmübungen vier angeheuerter Sänger. Emigholz unterteilt 2+2=22 [The Alphabet] in nach den sechsundzwanzig Buchstaben benannte Kapitel, jedes davon angefüllt mit dem avantgardistischen Synthetik-Krautrock, den überquellenden Notizbuchseiten – und mit Aufnahmen der Stadt Tiflis, denen Emigholz mithilfe seiner jetzt wieder schräggestellten Kamera den Postkartenschmalz verweigert. Die Spuren vergangener Kriege halten sich in Grenzen, aber die Bausubstanz der georgischen Hauptstadt bröckelt. Mittendrin fremdkörperartig Stahl und Glas: vereinzelt ragen moderne Hochhäuser in den Himmel auf.

Zwischen Drinnen und Draußen gibt es in 2+2=22 [The Alphabet] keine direkte Interaktion. Während sich der Alltag abspielt, sitzt die Band in ihrem fensterlosen Studio, sie könnte sich auch in jeder anderen Stadt befinden. Es ist vor allem Emigholz’ Montage, seine phänomenologische Auffassung von Räumen, die die Einzelteile zusammenführt. Über die Musik, über die Hintergrundgeräusche und Kapitelgrenzen setzt sich eine sanft schleppende Frauenstimme hinweg, etwas von Städteplanung vorlesend, von den Sichtachsen der Straßen, vom „Zusammenprall architektonischer Absichten an den Straßenrändern“ und von einer Fortbewegung „von Quartier zu Quartier, von Kapitel zu Kapitel“. Diese Verquickung von Raum, von Stadt, Architektur und Text findet ihre perfekte Entsprechung in der mathematischen, geradezu in geometrischen Formen greifbaren Musik von Kreidler.

Die zweitbekannteste Düsseldorfer Band, schon während der 1990er und 2000er Jahre vor allem in linken Künstler- und Intellektuellenmilieus gefeiert, experimentiert mit strengen Formen – und den Möglichkeiten zur Individualität, die sich innerhalb dieser Rahmen ergeben. Ihre Loops haben keinen Anfang und kein Ende und genauso wenig ein Zentrum wie die schrägen Stadtansichten von Heinz Emigholz. Der Blick soll sich nicht ausruhen. In 2+2=22 [The Alphabet] bekommt er Bausteine, mit denen er selbst konstruieren kann: Ziegel, Holz, Klänge, Buchstaben.

2+2=22 [The Alphabet] (2017)

Wie ein Besessener füllt Heinz Emigholz Berge von Notizbüchern mit seinen Collagen, Bildern, die er aus Zeitschriften und Katalogen ausschneidet. Dazwischen Seite um Seite seine zackige Handschrift, bis kein freier Zentimeter mehr bleibt. In „2+2=22 [The Alphabet]“ sind diese Seiten das verbindende Glied zwischen den Sphären.

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