Log Line

Dass der Weg das Ziel ist, traf selten so sehr zu wie in Laura Citarellas neuem Film. Ein rätselhafter Genrehybrid aus Argentinien.

Trenque Lauquen (2022)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Eine Frau verschwindet

Es tut sich was im argentinischen Kino. Erzählstrukturen werden aufgebrochen und mutig neu zusammengefügt. Laura Citarella ist Teil des Filmkollektivs El Pampero Cine, das zuletzt mit „La Flor“ (2018), Mariano Llinás’ über einen Zeitraum von zehn Jahren gedrehtem, dreizehneinhalbstündigem, genreübergreifendem Episodenfilm überraschte. Die Schauspielerinnen Laura Paredes und Elisa Carricajo waren bereits bei Llinás mit von der Partie und haben nun auch bei Citarella tragende Rollen. Paredes hat zudem am Drehbuch mitgeschrieben und greift eine Rolle aus Citarellas Debütfilm wieder auf. Worum es in ihrem als Diptychon angelegten neuen Film geht? Um alles und nichts und darum, wie wir uns von diesen Nichtigkeiten, die all unser Leben ausmachen, erzählen.

Eine Frau verschwindet. Zwei Männer machen sich auf die Suche nach ihr. Doch anders als bei Hitchcock und im Genre des Mystery-Thrillers üblich, liegt bei Laura Citarella kein Verbrechen vor. Ja, nicht einmal um unglückliche Liebe, Beziehungs- und Zukunftsängste, wie die Männer und mit ihnen irgendwann im Handlungsverlauf auch die Zuschauenden im Kinosaal vermuten, geht es. Weshalb die von Laura Paredes gespielte Biologin verschwindet, bleibt auch über das Ende des Films hinaus im Vagen. Entscheidend ist nicht, was Citarella erzählt, sondern wie sie dies tut.

Trenque Lauquen, der seine Weltpremiere im September 2022 bei den Filmfestspielen in Venedig in der Sektion Orizzonti feierte, ist in zwei etwas mehr als zweistündige Teile gegliedert. In insgesamt zwölf Kapiteln, die teils unvermittelt und von einer abrupt unterbrochenen Tonspur begleitet ineinander übergehen, folgt Citarella mehreren Figuren, deren kompliziertes Beziehungsgeflecht sich erst sukzessive entbirgt. Mit Blick auf die lange Laufzeit lässt der spröde Einstieg zunächst Schlimmes befürchten.

Die zwei suchenden Männer, das sind Lauras Lebensgefährte Rafael (Rafael Spregelburd) aus Buenos Aires und ihr Kollege Ezequiel (Ezequiel Pierri), der von allen nur „Chicho“ genannt wird. Letzterer kommt aus der Kleinstadt Trenque Lauquen, in der Laura im Auftrag der Stadtverwaltung die Flora der Umgebung katalogisiert hat. Beide sind an einer gottverlassenen Tankstelle angekommen. Irgendwo im hässlichen Nirgendwo unterhalten sie sich in todlangweiligen Einstellungen über todlangweilige Dinge. Doch dann – zum Glück für Publikum und Film – vollführt Citarella etwas Unerwartetes. Der Film gleitet sanft in eine Rückblende hinüber, die Erzählung öffnet sich und schlägt immer neue Haken. Und je an- und aufgeregter die Figuren im Film von etwas erzählen, desto heftiger tanzt auch Gabriel Chwojniks Musik, die sich irgendwann gar in vom Science-Fiction-Film angehauchte Sphären emporschwingt.

Zunächst geht es um Laura, die eine von ihr gemachte Entdeckung nicht länger für sich behalten kann und „Chicho“ davon erzählt. Laura ist auf einen in Büchern versteckten, hocherotischen Briefwechsel aus den 1960er-Jahren zwischen einer Frau und einem verheirateten Familienvater gestoßen. Doch die Identität der Frau bleibt ein Mysterium. Irgendwann war diese wie vom Erdboden verschluckt.

Noch eine Frau also, die in diesem Film verschwindet; ohne je körperlich in ihm präsent zu sein. Vom Recherchefieber gepackt, stellt nun auch „Chicho“ auf eigene Faust Nachforschungen an, was Laura imponiert. Citarella erzählt das als Rückblende in der Rückblende in der Rückblende und offenbart alle Entdeckungen schichtweise wie beim Schälen einer Zwiebel.

Dann geht es um eine Erscheinung, die über der Lagune, die der Stadt Trenque Lauquen in der Sprache der indigenen Mapuche ihren Namen gibt, gesichtet wurde. Dort ist ein Wesen aufgetaucht, das weder Mensch noch Tier zu sein scheint. Weder Laura noch das Kinopublikum bekommen es je zu sehen. Aber Laura wird Teil des Paares, der schwangeren Wissenschaftlerin Elisa Esperanza (Elisa Carricajo) und deren Lebensgefährtin Romina (Verónica Llinás), die sich liebevoll um das Wesen kümmern. Erst bringt Laura dem Paar gelbe Blumen, die Lieblingsspeise des Wesens. Dann nistet sie sich fasziniert bei ihnen ein.

Die Trennung Lauras von Elisa und Romina folgt so abrupt wie alles in Citarellas Film. Die Frauen und das Wesen verschwinden auf der Flucht vor den Behörden. Und schließlich und endlich geht es um Lauras eigenes Verschwinden. Diese letzte halbe Stunde der Handlung kommt beinahe wortlos aus. Schweigend zieht sich Laura in sich selbst zurück, bevor sie der Welt und dem Film einfach abhandenkommt.

Trenque Lauquen ist Teil eines größer angelegten filmischen Projekts. Schon in Laura Citarellas Debütfilm Ostende (2011) spielte Laura Paredes eine Figur namens Laura. Das Ziel sei, „eine Reihe von Filmen, in denen dieselbe Figur verschiedene Leben in verschiedenen Städten in der Provinz Buenos Aires führt“, zu realisieren, verrät Citarella. Dass die Figur denselben Vornamen wie ihre Hauptdarstellerin und wie sie selbst trage, sei kein Zufall. Diese Laura sei „eine Art weiblicher Sherlock Holmes, eine Frau, die sich in den Städten verirrt und auf Abenteuer aus ist.“

Bei diesem filmischen Rätsel, das in Deutschland nicht nur vom ambitionierten Grandfilm Verleih vertrieben wird, sondern von den Nürnbergern auch koproduziert wurde, ist eben dieses Sich-Verirren die Maxime. Was wie ein Kriminalfilm beginnt, zu einem emanzipatorischen Liebesmysterium wird und schließlich zu einer Art Science-Fiction-Film mutiert, ist letztlich eine Lehrstunde im Geschichtenerzählen. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr verlaufen sich die Figuren und mit ihnen das Publikum in ihr. Und desto stärker wird der Sog, der von den Erzählungen ausgeht. Man muss sich nur trauen, sich von ihm hinabziehen zu lassen.

 

Trenque Lauquen (2022)

Eine Frau verschwindet. Zwei Männer machen sich auf die Suche nach ihr. Beide lieben diese Frau. Warum ist sie gegangen? Jeder von ihnen hat seinen eigenen Verdacht und verbirgt ihn vor dem anderen. Aber auf mysteriöse Weise werden sie dennoch nicht zu Rivalen. Keiner von beiden hat Recht mit seinen Vermutungen — aber hat das überhaupt jemand? Lauras plötzliche Flucht wird zum verborgenen Kern einer Reihe von Fiktionen, die der Film feinfühlig miteinander verwebt: das Geheimnis einer anderen Frau, die ebenfalls vor vielen Jahren verloren ging; das Geheimnis einer ländlichen Kleinstadt, die im Bann eines übernatürlichen Vorfalls steht; das Geheimnis der Landschaft, die sich immer weiter ausbreitet und alles verschlingt, wie die Schatten, die nach der Dämmerung in die Welt eindringen.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen