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„The Strangers’ Case“ ist ein sehr amerikanischer Film über Syrer*innen. Die multiperspektivische Fluchtgeschichte ist zu effekthascherisch geraten.

The Strangers’ Case (2024)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Humanitäres Leid als Blockbuster

Wie inszeniert man humanitäres Leid? Diese Frage haben sich schon viele sogenannte Anti-Kriegsfilme stellen müssen. Die verschiedenen Verfilmungen von „Im Westen Nichts Neues“ etwa setzten durchaus auf das Spektakel der Gewalt. Brandt Andersen ist quasi Fachmann für diese Frage. Der US-Amerikaner hat eine NGO gegründet, die speziell die Geschichten Geflüchteter ins Kino bringen will, und er hat zuvor bereits mehrere Kriegsfilme als Produzent verantwortet: „The Flowers of War“ und „Lone Survivor“. „The Strangers’ Case“ ist seine erste Regiearbeit in Spielfilmlänge und die erste Koproduktion seiner Stiftung.

Nicht zufällig schwenkt der Establishing Shot über den Trump Tower in Manhattan. Dieser Film möchte das wahlberechtigte US-Publikum beeindrucken, das bis zum November sicherlich einmal wieder gerade über Migrationspolitik diskutieren wird. Dann beginnt die erste von fünf Episoden, in denen eine Fluchtgeschichte aus fünf verschiedenen Perspektiven erzählt wird: denen von Flüchtenden, eines Grenzsoldaten, eines Schleppers und schließlich der griechischen Küstenwache. Die erste (und auch mitreißendste) Perspektive ist die der Ärztin Amira (Yasmine Al Massri), die in Aleppo in Syrien noch arbeitet, als die Bomben des Bürgerkriegs den Behandlungssaal bereits erschüttern lassen. Nicht nur das: Selbst im Behandlungssaal wird noch geschossen, weil sie zwischen den Verwundeten unterschiedlicher Parteien keinen Unterschied macht. Als dann ausgerechnet während einer Geburtstagsfeier aber ihre ganze Familie mit Ausnahme der Tochter von Schutt erschlagen wird, entscheidet sie, zu fliehen, statt weiter 72-Stunden-Schichten zu schieben.

Es wird schnell deutlich: The Strangers’ Case erzählt im Stil eines Hollywoodfilms, mit Mitteln des Thrillerkinos gar, von realem humanitärem Leid. Kunstblut und Melodrama prägen diesen Film, der alles tut, um seinem Publikum eine Reaktion zu entlocken. Er will schockieren: Die Hinrichtung eines Kindes ist zu sehen. Er will süß sein: Eine Familie hat einen Hund mit dabei. Er ist plakativ, damit’s auch jeder versteht: Der Schlepper hat eine Dollarsymbol-Kette am Autorückspiegel hängen. Der Titel ist ein Shakespeare-Zitat und weist somit darauf hin, dass es Migration und Fluchtgeschichten immer schon gegeben hat und „das Los des Fremden“ also Unschuldige trifft. Auch das ist schon ebenso grundsätzlich richtig wie arg simplifiziert. Nicht jede Zeit ist dieselbe, mit denselben Ressentiments. Es ist aber natürlich gut möglich, dass das wahlberechtigte US-Publikum von der Klarheit der Botschaft und dem Glanz der Form beeindruckt ist. Das führt zur klassischen Frage beim Produzieren aktivistischer Kunst: Wählt man die Form, die dem Thema angemessen ist, oder die, welche Reichweite verspricht? The Strangers’ Case hat sich klar für Letzteres entschieden.

Klar: Blockbusterkino beeindruckt und kann auch aufrütteln, und wahrscheinlich ist es grundsätzlich möglich, mit fast jedem Genre oder Produktionsstil auch jedes Thema zu bearbeiten. The Strangers’ Case interessiert sich aber nicht für die Form des Blockbusterkinos, er exerziert sie nur durch. Auch die Episodenstruktur führt nicht dazu, dass die Geschichte sich auf dramaturgisch interessante Weise entblättert und zusammensetzt. Im Gegenteil: Es ist dramaturgisch merkwürdig, Ereignisse aus einer neuen Perspektive noch einmal genauso zu sehen, wie man sie sich ohnehin schon vorgestellt hat. Die Form ist nicht nur irritierend, sie ist auch nicht gekonnt. Auch die Entscheidung zum Episodischen dient womöglich nur dazu, dass möglichst viele Zuschauende bei einer der Figuren Anknüpfungspunkte und Empathie finden können.

Enden wir deshalb auch mit der Perspektive eines Kapitäns der Küstenwache? Damit es noch eine weiße Heldenfigur gibt, die der Mehrheitsgesellschaft näher ist? Wenn das Licht des Boots von Stavros (Constantine Markoulakis) aus dem stürmischen Wasser auftaucht, dann ist das inszeniert wie ein göttliches Wunder. Doch auch der Kapitän ist traumatisiert – er träumt von denen, die er nicht retten konnte. Und auch die Diskurse der Mehrheitsgesellschaft müssen nun noch eingebaut werden: Stavros’ Freunde, oder Verwandte, auf jeden Fall Leute, mit denen er beim Essen sitzt, hauen die Parolen raus, die man in der BILD-Zeitung lesen oder eben von Donal Trump hören kann: „Das Boot ist voll“-Rhetorik.

Der Film macht damit nichts weiter, er schmeißt das nur so hin, damit auch der letzte Zuschauer begreift, dass man rechten Wahlkampf und das gezeigte Leid nicht voneinander trennen kann, dass es bei Diskussionen um Obergrenzen um Menschenleben geht, die alle gleich würdig sind. Wer hätte es gedacht.

So offenbart sich ein Unterschied zwischen aktivistischem Kino und politischem Kino: Die Form ist nicht mit dem Inhalt verschränkt, sie soll bloß glänzen. Die Botschaft ist löblich, der Film aber ist furchtbar. Wer vom würdigen Leben Geflüchteter nicht mehr überzeugt werden muss, sollte sich die Kinokarte sparen und stattdessen für die zivile Seenotrettung spenden.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

The Strangers’ Case (2024)

In „The Strangers’ Case“ wird eine syrische Familie in Aleppo von einer Tragödie heimgesucht. Diese löst eine Kette von Ereignissen aus, die Folgen für fünf Familien in vier verschiedenen Ländern hat. (Quelle: Berlinale)

 

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Meinungen

Marty Karbassion · 26.02.2024

Ich habe den Film gestern auf der Berlinale gesehen. Mir sind die Tränen runtergelaufen und gleichzeitig stockte mir der Atem. Mittendrin,habe ich mit erschrecken festgestellt, wie leichtfertig wir Verurteilen, während wir in einem Land leben, in dem es keinerlei Kriege gibt. Der Film ist in kleinen Episoden aufgeteilt, die am Ende alle zusammenführen. Sie zeigen ganz klar, dass es zum Schluss nur Verlierer gibt und jeder seinen Teil dazu beiträgt. Sei es durch Vorurteile oder die Taten eines Schleusers, der selbst einst auf der Flucht war.

Absolute Empfehlung!!!!