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In „May December“ zeigen Todd Haynes, Julianne Moore und Natalie Portman, wie das Leben zum Werkzeug der Kunst (und der Seifenoper) wird.

May December (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Imitation of Life

„May December“ ist ein guter Film über das Leben in Form eines schlechten Films. Ein komplexes Werk über die bloße Behauptung von Komplexität. Und somit ein Stoff, der sich ideal ins Œuvre des 1961 geborenen US-Regisseurs Todd Haynes einfügt. In „Dem Himmel so fern“ (2002) kehrte Haynes das Moderne, Aktuelle im klassischen Stil eines alten Melodrams hervor. In „Carol“ (2015) entdeckte er das Wahrhaftige im durch und durch Artifiziellen. Und nun zeigt er uns, wie die Unterhaltungsindustrie und manchmal auch das Arthouse-Kino wahre Begebenheiten nutzen, um diese zu einer konsumierbaren oder vermeintlich künstlerisch wertvollen Ware zu machen.

Insbesondere in den 1980er, 90er und frühen 2000er Jahren waren sie im US-amerikanischen Fernsehen, aber auch in den deutschen privaten TV-Kanälen sehr präsent: die sogenannten „Movies of the Week“, die ein reales Schicksal, das für Schlagzeilen gesorgt hatte, für ein sensationslüsternes Publikum aufbereiteten. Sie trugen Titel wie Zur Lüge gezwungen / Forgotten Sins, Wer hat meine Tochter ermordet? / Justice for Annie oder Brutale Exzesse / She Stood Alone und waren meist mit (semi-)bekannten Serien- und B-Movie-Gesichtern besetzt.

Auch die Geschichte von Mary Kay LeTourneau, einer Lehrerin, die 1996 in ihren Dreißigern ein Verhältnis mit einem damals 12-jährigen Schüler begann, den sie dann nach einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt heiratete, wurde in einem solchen Film verarbeitet: Mary Kay Letourneau – Eine verbotene Liebe (2000) mit Penelope Ann Miller, mehr oder weniger bekannt aus dem Gruselschocker Das Relikt (1997). Ebenso finden sich Spuren der Story im gehobenen Drama Tagebuch eines Skandals (2006), das auf einem von LeTourneaus Leben inspirierten Roman basiert und vor allem von queeren Zuschauer:innen aufgrund der absolut übersteigerten Darbietungen der Vollblutmiminnen Cate Blanchett und Judi Dench als Camp-Meisterstück gefeiert wird.

Die in May December von Julianne Moore verkörperte Gracie entspricht LeTourneau in etlichen Punkten – bis auf den Beruf. Gracie lernte den seinerzeit 13-jährigen Joe (Charles Melton) als Angestellte in einem Zoofachgeschäft kennen, in dem der Teenager als Aushilfe tätig war. Die (Missbrauchs-)Beziehung wurde entdeckt, weshalb Gracie in Haft kam und dort ihr erstes Kind von Joe zur Welt brachte. Inzwischen sind die beiden seit vielen Jahren ein Ehepaar – und die ehrgeizige Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) soll Gracie in einem Independentfilm spielen. Deshalb hält sich die junge Frau, die durch eine trashige Serie zum Star wurde, einige Zeit bei Gracie und deren Familie auf.

Die Inszenierungsentscheidungen, die Haynes hier trifft, um das Drehbuch von Samy Burch auf die Leinwand zu bringen, sind zuweilen herrlich irritierend. Die audiovisuellen Mittel erinnern oft an Daytime-Soaps wie Reich und Schön, die wiederum billige Kopien von Primetime-Soaps wie Der Denver-Clan sind, welche ihrerseits banale Abbilder von Douglas-Sirk-Werken wie Solange es Menschen gibt (1959) sind, die sich hingegen der Mechanismen des Hollywood-Melodrams bedienen, um diese klug zu reflektieren – was natürlich im Abklatsch des Abklatschs überhaupt nicht mehr spürbar ist.

In May December gibt es etwa ein kurzes musikalisches Leitmotiv, das so betont cheesy ist, als stamme es direkt aus dem vormittäglichen Seifenopernprogramm. An einer Stelle wird es mit einem Zoom und einem entsetzten Blick von Gracie in den Kühlschrank kombiniert. Würde darauf ein Werbeblock folgen, um Putzmittel und Kosmetik zu präsentieren, wäre dies kaum überraschend. Hinzu kommt das Schauspiel von Moore und Portman, das so falsch wirkt, wie es nur Leute mit echtem Talent vermitteln können.

„That must have been really hard“, sagt Elizabeth mit geheuchelter Anteilnahme, als sie Gracies Ex-Mann Tom (D.W. Moffett) zu Recherchezwecken interviewt. In Zeitlupe und mit glühendem Augenaufschlag betritt sie die Highschool, in der Gracies und Joes Zwillinge gerade ihren Abschluss machen, um vor einem Kurs maximal prätentiös über Herausforderungen in ihrem Job, über spannende Figuren und über die Suche nach Menschlichkeit in den Grauzonen einer Person zu sprechen. Gewiss gibt es von allen Schauspieler:innen, einschließlich Moore und Portman, Statements, in denen sie derartige Floskeln von sich geben, um den Eindruck von Tiefgang zu erzeugen. Und Portman kostet die Überspitzung dieser Attitüde ganz wunderbar aus.

Moore hat sich derweil für die Interpretation von Gracie ein affektiertes Lispeln zulegt, das von Portman beziehungsweise Elizabeth später kongenial imitiert wird. Solange es Menschen gibt… wird es vermutlich Schauspieler:innen geben, die deren Eigenheiten nachahmen, um große Kunst (oder doch zumindest beherzt aufgeplusterten Kitsch) zu schaffen.

Immer wieder sehen wir Gracie und Elizabeth gemeinsam vor Spiegeln interagieren – im Bekleidungsgeschäft, im Badezimmer, im WC eines Restaurants. Wie die beiden sich mit dem schönsten Fake-Lächeln vergiftete Komplimente machen, um zu sehen, wer sich wohl zuerst an einer der hübsch klingenden Malicen verschluckt, ist grandioses Camp-Kino, das uns die Imitation von Leben auf die lebendigste Weise zeigt, die im Künstlichen möglich scheint – that must have been really hard!

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

May December (2023)

Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Hollywood-Schauspielerin, die sich zu Recherchen mit der Frau trifft, die sie in einem Film über deren skandalbehaftete Beziehung 20 Jahre zuvor darstellen soll. 

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