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Der Maler Heinrich Vogeler führte ein filmreifes Leben. Vom Liebling des Bürgertums wechselte er auf die Seite des Sozialismus, von der Künstlerkolonie Worpswede zur revolutionären Avantgarde. Anhand seines Beispiels leuchtet Regisseurin Marie Noëlle die Zerreißproben des Künstlerdaseins aus. 

Heinrich Vogeler - Aus dem Leben eines Träumers (2022)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Weiches Gemüt, radikaler Bruch

Zwischen allen Stühlen — für einen Künstler ist das nicht der schlechteste Platz. So kann man Neues anstoßen, Traditionen aufbrechen. Das Zwischenreich kann allerdings auch recht ungemütlich werden. Man eckt an, bleibt unverstanden, endet in Einsamkeit. Heinrich Vogeler (1872-1942) hat beides erfahren. Er wurde gefeiert und verdammt. Erst war er mit seinen romantischen Jugendstilbildern der Liebling des Bürgertums, dann geriet er in eine Krise und kam als Sozialist wieder heraus. Der Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede ist eine widersprüchliche, in sich zerrissene Figur. Genau das interessiert Regisseurin Marie Noëlle. In ihrer Doku-Fiktion pünktlich zum 150. Geburtstag des unkonventionellen Träumers, Lebensreformers und Revolutionärs arbeitet sie das Aktuelle seiner Kunst und seines Lebens heraus. 

Schauspieler Florian Lukas zieht ein lebensgroßes Abbild des echten Heinrich Vogelers aus einem Hochleistungsdrucker. Er zeigt es der Kamera, tritt ihm gegenüber, betrachtet es ehrfurchtsvoll und verneigt sich dann vor ihm. Eine reizvolle Doppelung, die das Verhältnis von Tatsache und Interpretation anreißt: Was ist kunsthistorisch belegt, was ein fiktives Hineinschlüpfen in die Innenwelt der Figur? Das ist das Spannungsfeld in Marie Noëlles Mix aus Spielfilm und Doku. Der Film changiert zwischen bewusst subjektivem Zugriff und höchster Gründlichkeit bei den gesicherten Fakten. Alles fließt auf sinnlich-elegante Weise ineinander.

Da sind zum einen die Spielszenen. Sie werden von Experteninterviews, Archivfotos oder autobiografischen Texten angereichert. Ein Beispiel: Florian Lukas steht als Vogeler im historischen Kostüm in einem lichten Birkenwäldchen. In der Hand hält er ein schmales Büchlein, autobiografische Erinnerungen des Künstlers. Der Schauspieler liest daraus vor: „Vielleicht können Menschen in dieser Erzählung meines Lebens die Irrwege erkennen, die sie selber nicht mehr zu begehen brauchen.“ Als er auf seine Herkunft zu sprechen kommt, erscheint am rechten Bildrand für wenige Sekunden ein Archivfoto des jungen Mannes, aber die Spielhandlung läuft weiter. Kurze Momente später spricht aus dem Off eine Expertin über die Faszination von Vogelers Lebenslauf, über sein weiches Gemüt und die radikalen Brüche. So geht es weiter, in unmerklichen Überschneidungen und Überblendungen von Fiktion und Realität. 

Hier die harten Fakten: Heinrich Vogeler wird in eine Bremer Kaufmannsfamilie geboren. Ursprünglich soll er das elterliche Großhandelsgeschäft übernehmen. Der plötzliche Tod des Vaters ermöglicht es ihm aber, 1895 nach Worpswede zu ziehen und das Haus Barkenhoff zu einem Künstlerdomizil im Sinne des Jugendstils auszubauen. Dort lebt er mit seiner Frau Martha (Anna-Maria Mühe) und pflegt regen Austausch mit Künstlerkollegen, etwa mit Rainer Maria Rilke (Johann von Bülow) und Malerkollegin Paula Modersohn-Becker (Naomi Achternbusch). Doch das Leben als „Märchenprinz“ währt nicht ewig. Der Träumer, wie ihn der Film im Untertitel nennt, bezeichnet sein bisheriges Leben irgendwann als „Irrtum“, meldet sich freiwillig zum Ersten Weltkrieg, wendet sich aber bald enttäuscht vom Kaiser ab, schreibt einen kritischen Artikel, der Hochverrat bedeutet, landet im Irrenhaus und lernt danach in den Nachkriegswirren die Kommunistin Sonja (Alice Dwyer) kennen. Mit ihr geht er nach Moskau, aber auch diese Ehe steht unter keinem guten Stern.

Und hier das filmische Konzept: Marie Noëlle, die sich mit Ludwig II. (2012) und Marie Curie (2016) schon in reinen Spielfilmen von historischen Persönlichkeiten inspirieren ließ, will den Blick weiten: über das Schicksal Vogelers hinaus zu den allzeit gültigen Themen des Künstlerdaseins. Aus welchen Nöten entsteht Kunst? Wie verhält sich der Künstler zu der Zeit, in der er lebt und arbeitet? So erklärt sich, dass Vogeler, Rilke und Modersohn-Becker, als sie nach Paris zu Auguste Rodin (Samuel Finzi) reisen, wie selbstverständlich bei der modernen Künstlerin Sophie Sainrapt (1960 geboren) vorbeischauen, sich deren Aktzeichnungen anschauen und mit ihr über ihre Werke reden.

So entsteht ein spannender, vielstimmiger Erzählteppich, der keine Muster vorgibt, sondern ähnlich wie Vogelers sozialistische „Konzeptbilder“ eine Collage von Denkanstößen versammelt. Das ist nicht nur kunsthistorisches Bildungskino im guten Sinne, sondern auch eine ästhetisch reizvolle Auseinandersetzung, die unbedingt auf die große Leinwand gehört. Allein schon wegen der Werke Vogelers, die es neu zu entdecken lohnt.

Heinrich Vogeler - Aus dem Leben eines Träumers (2022)

Seine Kunst machte ihn in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zum Liebling des Bürgertums, seine Kriegserfahrung später zum Dissidenten, seine politische Haltung schließlich zum Exil-Künstler – Heinrich Vogelers Lebensgeschichte ist eine radikale Sinnsuche in Zeiten großer Umbrüche. Sie wirft universelle Fragen zu Verständnis und Verantwortung von Kunst auf, die in Interviews mit zeitgenössischen Künstler*innen diskutiert werden und eine Brücke zum 21. Jahrhundert und dem Kunstbegriff der Gegenwart schlagen. Dabei verschmelzen die Zeitebenen, sowie fiktionale und dokumentarische Aufnahmen mit Interviews, Archivbildern und Vogelers Malerei im Film zu einem organischen Gesamtwerk. (Quelle: Fabrfilm Verleih)

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Meinungen

smb · 13.06.2022

Ein wunderbarer, sehenenswerter Film über den Künstler, die Künstlerkolonie Worpswede und die damalige Zeit. Unbedingt auf großer Leinwand sehen. Vor kurzem habe ich die Doku über S.Freud gesehen. Langeweile pur, nichts Neues und Interessantes (obwohl behauptet wird, dass man in der Doku unveröfenltliches Material verwendet hat). So unterschiedlich kann eine Doku
machen.

Crazyhorse · 22.05.2022

Vogeler fährt nicht nach Paris zu Gauguin, wie in der Kritik beschrieben, sondern zu Rodin.

Margrit · 13.05.2022

Der Kinowecker ist mir eine wichtige Hilfe!