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Der Autorenfilmer Christophe Honoré schildert in „Der Gymnasiast“ eine intime, queere Coming-of-Age-Geschichte über Trauerarbeit.

Der Gymnasiast (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Smalltown Boy in Paris

Ein 17-Jähriger, der sein Leben als „wildes Tier“ bezeichnet, das es zu zähmen gilt: So geht es los – als Einstimmung auf einen Film, der uns immer wieder an emotionale Grenzen führt. Wir sehen Lucas (Paul Kircher), der in einer Art Interviewsituation direkt zu uns in die Kamera spricht. Dieses Stilmittel der unmittelbaren Ansprache lässt an Werke aus den 1980er und frühen 1990er Jahren denken, etwa an „Ferris macht blau“ (1986) oder „Singles“ (1992).

Das passt wiederum gut, da der französische Drehbuchautor und Regisseur Christophe Honoré, Jahrgang 1970, hier spürbar eine sehr persönliche Geschichte über das Heranwachsen mit deutlich autobiografischen Elementen erzählt. Der Gymnasiast ist in der heutigen Zeit angesiedelt, ist modern und mutig – und lässt sich doch mühelos in frühere Dekaden übertragen.

Honoré hat im Laufe seiner Karriere schon ein paar äußerst radikale Filme geschaffen, darunter Meine Mutter (2004) und Mann im Bad – Tagebuch einer schwulen Liebe (2010). Seine weniger sperrig, gar fluffig daherkommenden Arbeiten, wie zum Beispiel die Musical-Tragikomödien Chanson der Liebe (2007) und Die Liebenden (2011), konfrontieren uns hinter ihrer gefälligen Erscheinung oft mit noch Heftigerem – so wie bittere Pralinen in trügerisch hübscher Glitzerverpackung. Der Gymnasiast liegt dramaturgisch und inszenatorisch irgendwo zwischen diesen beiden Polen.

Relativ zu Beginn haben Lucas und sein Vater (verkörpert von Honoré) einen vergleichsweise harmlosen Autounfall. Nichts Schlimmes ist geschehen, niemand hat sich ernsthaft verletzt. Aber es ist ein Zeichen – denn kurz darauf stirbt Lucas’ Vater tatsächlich, während er am Steuer seines Wagens sitzt. Es gelingt dem Film, den dynamischen Prozess des Trauerns, angefangen mit dem Schock und gefolgt von Gefühlsausbrüchen, schmerzlich und treffend einzufangen.

Die Mutter Isabelle (Juliette Binoche), der ältere Künstler-Bruder Quentin (Vincent Lacoste) und Lucas selbst – sie alle haben ihr eigenes Tempo, ihre individuelle Art, um mit dem Verlust umzugehen. Die Gefühle verstecken sich hier nicht hinter Mauern und müssen nicht erst mühsam hervorgezogen werden, wie dies bei US-Filmen über dysfunktionale Vorstadt-Familien häufig der Fall ist – sie sind einfach da, oft ziemlich plötzlich, manchmal hässlich, immer ungefiltert.

Die Handkamera von Rémy Chevrin bewegt sich sehr nah an den Figuren und erfasst auch kleine Momente, die echt wirken. Etwa wenn es beim Zusammensein der (Groß-)Familie recht ungeschickt zur politischen Diskussion am Tisch kommt. Oder wenn unermüdlich Essen zubereitet, verspeist, weggeräumt und wieder hervorgeholt wird, weshalb gefühlt ohne Unterbrechung Geschirr im Haus herumklappert. Oder wenn Isabelle von der Couch ins Bett fällt, weil Zeit und so etwas wie Alltagsstruktur im Angesicht der Ereignisse völlig an Bedeutung verloren haben. Oder wenn Isabelle und ihre beiden Söhne beim Aussuchen der Musik für die Beerdigung auf den Song Electricity der britischen Popband Orchestral Manoeuvres in the Dark stoßen und bei einem kurzen Tanz die Hoffnung aufblitzt, dass es vielleicht auch irgendwann mal wieder schön wird.

Bemerkenswert ist die Zeichnung des Verhältnisses zwischen den beiden Brüdern – und wie sehr wir zu glauben bereit sind, dass die Darsteller Paul Kircher und Vincent Lacoste ihr ganzes bisheriges Leben, in guten ebenso wie in schlechten Augenblicken, miteinander verbracht haben. Mal geht es zwischen den beiden überaus rau zu, es wird beleidigt und geprügelt; dann fällt Quentin auch schon wieder in Lucas’ Schoß – eine Versöhnung ohne Worte. Von der Eskalation direkt zur Zärtlichkeit, das schaffen vermutlich nur Geschwister.

Spontan nimmt Quentin Lucas mit nach Paris, raus aus der Provinz, rein in die Großstadt, die hier gar nichts Pittoreskes hat. Seinem Freund Oscar (Adrien Casse) hatte Lucas zuvor gesagt, dass das zwischen ihnen sicher keine Liebe wird; nun beginnt er, sich für Quentins Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé) zu interessieren. Lucas hat sein erstes anonymes Sex-Date, redet mit einem Priester über die Wiederauferstehung – und antwortet Lilios Mutter auf die Frage nach seinem Beziehungsstatus: „Ich bin frei.“

Doch Trauer kommt in Wellen – und von diesen wird Lucas immer wieder brutal überrascht. In der Darstellung des selbstzerstörerischen Verhaltens von Lucas geht Honoré sehr weit. Ein Selbstmordversuch wird derart drastisch gezeigt, dass die Grenze zum Reißerischen überschritten wird. Das mag am persönlichen Zugang liegen; mit uns selbst sind wir immer am härtesten, am äußersten Punkt schonungslos. Der Gymnasiast macht es uns wahrlich nicht leicht – und denkt überhaupt nicht daran, uns nach zwei Stunden einfach so wieder loszulassen.

Der Gymnasiast (2022)

Ein Drama über einen Teenager, der nach dem Tod seines Vaters in eine Krise gerät. 

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