Sibylle

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Grundbausteine einer deutschen Genre-Reniassance

Wieder ein deutscher Film, der seinen Horror aus der Angstpsychose seiner Protagonistin zieht. Ein Film, der in genreaffinen Bildern von Seelenrissen erzählt, von Entfremdung, von einem Unbehagen an Körperlichkeit und Sexualität. Ein Film, der mit dem Einsatz inszenatorischer Mittel einen Abschied vom Alltag hin in eine andere, imaginierte Welt des Möglichen, des Bedrohlichen zelebriert.
Solche Genre-Horrorthriller spuken in den letzten Jahren vermehrt in den Köpfen von Filmhochschulabsolventen herum; und auch wenn sie niemals die Qualitäten von Vorbildern wie Polanskis Der Mieter oder Kubricks Shining erreichen, auch wenn sie mit geringstem Budget auskommen müssen, auch wenn die Regisseure die filmischen Mittel zwar kennen und einsetzen können, darin aber noch nicht routiniert sind: So sind Filme wie etwa in der letztjährigen Berlinale-Perspektive Deutsches Kino Der Samurai von Till Kleinert, in diesem Jahr Jakob M. Erwas HomeSick oder eben Michael Krummenachers Sibylle wichtige Grundsteine, auf denen ein neues, handwerklich versiertes, inhaltlich überzeugendes und emotional wirkungsvolles deutsches Genrekino möglich werden könnte.

Wobei Sibylle gegenüber HomeSick sicherlich der bessere Film ist; allein schon wegen der größeren Vielfalt der inszenatorischen Mittel und der technisch besser eingesetzten Effekte von Geräuschen über Kameraführung, Montage und Darstellung bis zu schönen Schockeffekten und bizarren Figuren, die dem Grusel der Zuschauer wie auch der Beklemmung von Titelfigur Sibylle höchst zuträglich sind.

Sibylle und ihre Familie sind in Italien im Urlaub; und hier tun sich die ersten Risse auf. Eine Frau, die Sibylle aufs Haar ähnelt, stürzt sich über die Felsenküste zu Tode, ihre letzten Worte „Alles verändert sich“ gehen Sibylle unter die Haut und an die Nerven. Sie begibt sich auf die Spuren der Toten, erhält in der Klinik einen Wäschebeutel der Verstorbenen, trifft in ihrem Hotel auf eine merkwürdig gefährlich wirkende Anordnung von Hotelangestellten, die ebenso die Rezeptionisten zu einer anderen, vielleicht jenseitigen, auf jeden Fall wahnsinnigen Welt darstellen könnten. Zurück in München funktioniert Sibylle nur noch nach außen normal. Ihr halbwüchsiger Sohn besteht auf Bodybuilding-Training – ein Kindergesicht mit Muskelmann-Armen! –, und die Pornos, die er auf dem Laptop anschaut, sind mehr als abstoßend. Der Ehemann – mit dem Sibylle ein Architekturbüro leitet – hat plötzlich eine neue Sekretärin namens, ausgerechnet, Chantal. Und der neue Nachbar beobachtet sie vom Fenster aus.

Die Welt zerfällt, die Welt, wie Sibylle sie sieht. Die Wahrnehmung zerknistert, das Telefon gibt nur noch verrauschte Sprachfetzen von sich. Die Paranoia schlägt zu, heftig – und das Besondere am Film ist weniger, dass er uns auf die Reise mit Sibylle mitnimmt, die in ihren Mitmenschen irgendwie veränderte Fremd-Wesen sieht, als dass er diese simple psychologische Erklärung nicht geradlinig verfolgt, sondern irritierende Momente stehen lässt, die eine Einheitlichkeit des Erzählmusters zumindest ein wenig stören.

Freilich nutzt Krummenacher zu sehr Zitate aus Vorbildfilmen ab; lässt auch ab und an zu viel Nebel wallen, schwelgt im Mittelteil in Sibylles Zustand, was kleinere Durchhänger in der Steigerungskurve erzeugt. Aber vom Anfang – einer actiongeladenen Stuntshow, in die wir Zuschauer katapultiert werden – bis zum offen verstörenden Schluss gelingt doch weitgehend, eine Wahrnehmung von Andersartigkeit zu etablieren, an der Anne Ratte-Polle mit ihrer präzisen Darstellung nicht unerheblichen Anteil hat.

Sibylle

Wieder ein deutscher Film, der seinen Horror aus der Angstpsychose seiner Protagonistin zieht. Ein Film, der in genreaffinen Bildern von Seelenrissen erzählt, von Entfremdung, von einem Unbehagen an Körperlichkeit und Sexualität. Ein Film, der mit dem Einsatz inszenatorischer Mittel einen Abschied vom Alltag hin in eine andere, imaginierte Welt des Möglichen, des Bedrohlichen zelebriert.
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