Im Spinnwebhaus

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Kindsein in der Welt

Tristes Schwarzweiß. Das sieht zunächst nicht sehr gut aus – es hat so einen merkwürdigen Videoeffekt, als sei das Bild nicht als schwarz-weiß gestaltet, sondern ihm lediglich die Farbe entzogen worden. Auf jeden Fall befremdet es; und führt uns ein in die Welt einer völlig überforderten alleinerziehenden Mutter (Sylvie Testud) und ihrer drei Kinder Jonas, Nick und Marie.
Alles ist ganz genau getaktet: Jonas von der Schule abholen, zehn Minuten Zeit, um zu Miechens Kita zu kommen, und schon ist man ein paar Minuten zu spät zuhause und der hyperaktive Nick, mit dem Schulbus von der Sonderschule für Bekloppte zurückgekehrt, schmeißt Steine auf Autos und Briefkästen. Ein Sozialdrama nimmt seinen Lauf, das in den Anfängen zwar krass ist, aber in den Bahnen der typischen Standards verbleibt. Krass deshalb, weil die Mutter nachts die Kinder ins Auto packt und weit weg zum Vater fährt, sie will die Kids nicht mehr haben, er aber auch nicht, die Mutter auf den Knien, trotzig weigert sie sich aufzustehen, der Vater voller Ablehnung („Das hat nichts mit euch zu tun, Kinder!“). Und im Rahmen des Gewöhnlichen, weil der typische Sozialfilm eben die krassen Fälle herausgreift, um irgendetwas anzuklagen und irgendwelche Betroffenheitslevel zu erreichen.

Dann lässt die Mutter die Kinder alleine zuhause, fährt ins Sonnental, um die Dämonen zu bekämpfen. Keiner darf wissen, dass sie in der Klapse ist, also schwören die Kinder einen heiligen Eid: Die Mama ist nur kurz zum Einkaufen und kommt bald wieder. Und langsam schleichen sich in den Film die Elemente des Märchenhaften, des Metaphysischen, des Absurd-Irrealen ein. In einer Konstellation, die das Hänsel-und-Gretel-Motiv umdreht: Die Mutter verschwindet im Wald ihrer Psychose, kämpft gegen die Ungeheuer, die Kinder bleiben arm und hungrig zuhause zurück. Sie bauen Höhlen in der verdreckten Wohnung, sammeln Käfer und an der Decke wachsen die Spinnweben.

Mara Eibl-Eibesfeldt schafft den Sprung vom drögen Betroffenheitskino und Sozialkitsch ins zauberhaft Andersweltige. Wobei die Handlung einerseits stets geerdet bleibt, sich aber andererseits zu einer freien Fantasie über einen wahren Fall aufschwingt. Eine Fantasie, in der Graf Felix von Gütersloh eine wichtige Rolle einnimmt. Ludwig Trepte spielt diesen anarchischen Gothic-Straßenmenschen mit Ledermantel, kettenbehängt und einigen Spinnentattoos, der sich mit Jonas anfreundet. Jonas, der nun für die Familie sorgen muss, der Nick im Zaum halten und Miechen trösten muss. Jonas, der verzweifelt nach Nahrung sucht, der die Lüge mühsam aufrechterhält und so dringend erwachsen sein muss. Dagegen Felix, der das Freie propagiert, mit Ratschlägen in Reimform, der sich unaufdringlich kümmert, im Hintergrund, auf eine ziemlich wilde Weise, und der eine merkwürdige Spinnen-Philosophie entwickelt hat: wenn sie dich einwickeln, bringen sie dich dahin, wo du hinwillst. Und der weiß: Für jedes Abenteuer hat’s zwei Enden, hast du Angst, wird sich’s zum Schlechten wenden, doch hast du Mut, dann ist es gut.

Immer mehr driftet der Film in eine Traum-Märchenwelt der Symbolik, des Uneigentlichen und wird zu einem merkwürdigen Trip, der den Zuschauer mitreißt. Vielleicht liegt es an den ADHS-Medikamenten, die Jonas – der sie gar nicht braucht – schluckt, um einigermaßen der Belastung standzuhalten? Vielleicht geht es aber auch nur darum, dass die Kinder wild und ungeregelt bleiben, dass sie Kinder bleiben in einer feindlichen Welt, die das Erwachsensein fordert. Dass sie sich den Gegebenheiten verweigern; und dabei doch verhakt sind in Pflichten und Schuldigkeiten, in einem Berg von Verantwortung. Ein Berg, aus dem man sich nicht nur freischaufeln, sondern den man versetzen kann.

Im Spinnwebhaus

Tristes Schwarzweiß. Das sieht zunächst nicht sehr gut aus – es hat so einen merkwürdigen Videoeffekt, als sei das Bild nicht als schwarz-weiß gestaltet, sondern ihm lediglich die Farbe entzogen worden. Auf jeden Fall befremdet es; und führt uns ein in die Welt einer völlig überforderten alleinerziehenden Mutter (Sylvie Testud) und ihrer drei Kinder Jonas, Nick und Marie.
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Meinungen

wignanek-hp · 11.08.2016

Also ich kann es nicht fassen. Da liest man die Besprechung eines interessanten Filmes und freut sich schon drauf, ihm im Kino sehen zu können, dann muss man damit leben, dass er ein knappes halbes Jahr nach seinem Kinostart schon in der Glotze läuft, als sogenanntes „Debut im Ersten“. Wissen die Verantwortlichen beim Fernsehen eigentlich, was sie da kaputt machen? Nur weil sie dafür Geld gegeben haben, nehmen sie sich das Recht raus, zu bestimmen, wann dieser Film in der heimischen Flimmerkiste läuft und dann auch noch zu nachtschlafender Zeit, wenn kein arbeitender Mensch ihn sehen kann. Ich hätte mir für diesen Film die große Leinwand gewünscht, hatte aber keine Chance, obwohl wir hier so etwas wie ein Programmkino haben. An die DVD-Veröffentlichungen nach einem halben Jahr hat man sich ja schon gewöhnt, obwohl ich das als Filmfreund auch nicht gutheiße, aber diese Verfrühung mit dem Fernsehen ist doch noch eine andere Nummer. Das schadet wirklich und wäre einfach zu vermeiden. Es fehlt nur an der Einsicht!!!