Chrieg

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Hinter sieben Bergen

Matteos Vater trainiert seinen Körper und sorgt für anständige Umgangsformen in seinem Haus. Matteos Mutter ist fett und kümmert sich um ihr kleines Baby. Matteo weiß nicht, was er anfangen soll mit diesen Leuten und mit seinem Leben. Die Eltern halten ihn nicht mehr aus. Er wird abgeholt und in ein Erziehungs-Arbeits-Bootcamp auf einem Bauernhof, oben in den Alpen, gebracht. Simon Jaquemet erzählt in seinem Debütfilm von diesem Matteo, von der Gewalt, von den Exzessen, vom Mit- und Gegeneinander dort oben: Chrieg wurde 2015 mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet.
Matteo, sechzehn Jahre, nimmt sich einmal eine Nutte mit aufs Zimmer. Sie stellt sich den Eltern als seine Freundin vor. Irgendwann nachts steht der Vater im Zimmer, fordert höflich, aber bestimmt, dass diese Freundin nun nach Hause müsse. Es kommt zu verbalen Scharmützeln, ein paar Handgreiflichkeiten. Und man hat das Gefühl, dass der Vater tatsächlich eine Beziehung des Sohnes zerstört hat. Kurze Zeit später nimmt Matteo sein Baby-Geschwisterchen aus dem Kinderwagen, trägt es durch den Wald: „Wenn du groß bist: Wirst du dann mein Freund sein?“, fragt er, und im Hintergrund äsen zwei Rehe.

Was ein Jugendlichen-Sozialstudien-Drama mit eingebautem Realismuseffekt sein könnte, das bringt Jaquemet auf ein höheres Level – und zwar ohne die Realität je aus dem Auge zu verlieren. Seine Darsteller sind größtenteils Laien, Benjamin Lutzke, der die Hauptfigur spielt, wurde beim Straßencasting im Hauptbahnhof Zürich gefunden. „Die Jugendlichen haben in vielen Fällen schon mehr erlebt als mancher Erwachsene in seinem ganzen Leben“, berichtet Jaquemet, „und ihre realen Lebensgeschichten sind manchmal noch viel dramatischer und extremer als das, was ich im Film erzähle.“ Tatsächlich fühlt man förmlich, wie die Darsteller in ihren Figuren aufgehen, wie sie sie ausfüllen mit allem, was sie haben. Die Milieuzeichnung einer Unterschicht, die in und für und durch Aggressivität lebt, ist knapp, aber sehr akkurat. Und man darf nicht vergessen, dass bis in die 1970er hinein in der Schweiz das Verdingwesen eine wichtige Säule des Sozialstaates war: verwaiste, halbverwaiste, uneheliche oder anderweitig unerwünschte Kinder wurden zum Arbeitseinsatz auf Bauernhöfe verwiesen; billige Arbeiter, zur Ausbeutung freigegeben, kirchlicher- und staatlicherseits gebilligt – Markus Imbodens Film Der Verdingbub von 2011 erzählt davon.

Jaquemet geht mit seinem Film über den Sozialrealismus hinaus, ins Jenseits der Mythen und Märchen: Mitten in der Nacht wird Matteo überfallen, zwei Männer zerren ihn in einen weißen Lieferwagen: Manchmal ist es einfacher, wenn es schnell geht. Angekommen auf dem Bauernhof, stellt sich Hanspeter, der Bauer, gar freundlich. Doch Matteo, welche Not: Alsbald wird er in einen Käfig gesteckt. Hier, hinter den sieben Bergen, herrscht nämlich nicht Bauer Hanspeter. Der hat sich gleich zu Anfang desavouiert: Kein Fernsehen, kein Internet, keine Drogen, kein Alkohol; nur Arbeit, das tut den Kids gut – so hat er vor dem Sozialarbeiter großgetan. Und gleich darauf seinen Kaffee mit einem kräftigen Schuss Schnaps veredelt. Hier herrschen die Jugendlichen, die Kriminellen. Die Matteo erstmal so richtig zusetzen. Käfig, Kette um den Hals, mit Ziegenscheiße einschmieren. Mutprobe auf einem Eisensteg hoch über dem Tal. Dann gehört er dazu, zu diesen Lost Boys, die sich ihr ganz eigenes Nimmerland eingerichtet haben.

Anton ist der Anführer, dazu kommen Dion und Ali. Wobei letzterer weiblich ist. Aber behandelt werden will wie ein Junge und denen auch in nichts nachsteht. Hier oben, auf der Jugendfarm, gibt es keine Grenzen und keine Regeln. Nachts ziehen sie ab und zu los, zocken in der Stadt Leute ab, reiche Snobs, die Drogen wollen und Prügel bekommen. Räuchern einen Musikclub aus. Zerstören macht Spaß. Ab und zu prügeln sie sich auch so, in aller Freundschaft. Wenn sie Hunger haben: Wen würden sie am liebster auffressen? Ein Paradies ist das, auf den Kopf gestellt. Anarchie. Krieg gegen die Welt da draußen.

Sie sind verloren. Und sie wissen das. Deshalb klammern sie sich aneinander, draußen im Nirgendwo. Doch jedes Paradies kann verloren gehen. Auch, wenn es nur die Gegenhölle zur Hölle da draußen ist.

Chrieg

Matteos Vater trainiert seinen Körper und sorgt für anständige Umgangsformen in seinem Haus. Matteos Mutter ist fett und kümmert sich um ihr kleines Baby. Matteo weiß nicht, was er anfangen soll mit diesen Leuten und mit seinem Leben. Die Eltern halten ihn nicht mehr aus. Er wird abgeholt und in ein Erziehungs-Arbeits-Bootcamp auf einem Bauernhof, oben in den Alpen, gebracht.
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