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Die Polizei riegelt ein Mietshaus ab. Die Hausverwaltung kauft Wohnungen auf. Die Mülltonnen stinken durch die Fenster. Gerüchte gehen um. „Black Box“ zeigt einen Mikrokosmos der Gesellschaft.

Black Box (2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Eingeschlossen

Ein Kran wird aufgebaut, ein Bürocontainer über ein Wohnhaus geschwenkt, der gläserne Arbeitsplatz im Hinterhof Berliner Mietshäuser niedergelassen. Die erste Szene des Films ist geradezu dokumentarisch, abgesehen davon, dass mitunter Felix Kramer in seiner Rolle als Hausverwalter Horn im Bild auftaucht. Regisseurin Aslı Özge verwurzelt ihren Film direkt und deutlich in der Realität. Um dann eine Art Ensemble-Kammerspiel zu beginnen, in dem wir diesen Hinterhof und einige der Wohnungen nicht mehr verlassen.

Ein Ei fliegt auf Herrn Horn. Nachts versammeln sich einige der Nachbarn im Hinterhof: Es geht um den neuen Bürocontainer, von dem aus alles überblickt werden kann, um die Mülltonnen, die ins Eck geschoben wurden, wo sie allen durchs Fenster stinken. Ein Hubschrauber flappt über das Haus, ein Suchscheinwerfer streift durch den Hof. Jemand schaut aus dem Fenster, andere lieben sich. Hier spielt sich das Leben ab.

Am nächsten Tag hat Henrike (Louise Heyer) ein Vorstellungsgespräch. Endlich, denn da sind Geldsorgen und so weiter. Ihr Mann Daniel (Sascha Alexander Geršak) besteht darauf, dass sie um 14 Uhr wieder da ist. Ihr kleiner Sohn Leo wiederum will sie überhaupt nicht gehen lassen. Und sie kommt auch nicht raus: Blaulicht, Polizei in voller Montur, Abriegelung des Wohnblocks. Keine Erklärungen, nur ein harsches Hier kommt keiner raus.

Herr Horn versucht zu arrangieren, was nicht zu arrangieren ist. Henrike steckt fest, kann nicht zum Termin, auch nicht in die Wohnung, weil ihr Kleiner sie sonst nie wieder loslässt. Ein Ausländer, der hier wohnt, bärtig, muslimisch aussehend, führt Telefonate, es geht um ein Treffen. Und in dieser einen Wohnung, ist da nicht eine Iranerin? Hat die schon mal jemand gesehen? Wem gehört der blaue Golf? Und: Wird eine Unterschriftenliste helfen im Kampf um den richtigen Platz für die Mülltonnen?

Die Nachbarn treffen sich, reden, sind verwirrt, sind gegen- und füreinander. Gerüchte machen die Runde. Die Bäckerei soll angeblich durch eine Kunstgalerie ersetzt werden. Wohnungen sollen verkauft werden. Herr Horn stellt klar, dass die Probleme in den Wohnungen liegen, die nicht seinem Konzern gehören. Und oben, auf dem Dachboden, da liegt ein Toter.

Aslı Özge geht von der Realität aus und verdichtet diese in Black Box dann. Sie fügt das ein, was in der Gesellschaft vor sich geht: die Diskurse um Wohnungsnot, Gentrifizierung, um Sicherheit und Kontrolle, auch um Lockdowns, um Eingeschlossensein. All das trifft an diesen einen Tag in diesem einen Mietblock aufeinander. Sogar die Impfdiskussion bricht herein. Irgendwann taucht eine Katze auf, einer wird gekratzt, das Tier ist doch hoffentlich geimpft. Wo ist der Impfpass? Tollwut ist keine Kleinigkeit, die Katze kam gerade aus der Türkei, sie ist illegal hier, der Gekratzte läuft hinter ihr her. Und schon ist die Polizei über ihm. Zu allem Überfluss ist er ein Schwarzer, gefundenes Fressen für die militarisierten, vermummten Ordnungshüter.

Özge geht bei all diesen Verdichtungen sehr geschickt vor. Sie verlässt nie das, was möglich ist, und sie gibt vor allem jedem ihrer Charaktere ein eigenständiges Gewicht. Alle haben bestimmte Ziele, bestimmte Motivationen, die quer zu den Zielen und Motivationen anderer stehen können. Jeder ist in seinem Handeln gerechtfertigt, aus seiner Perspektive zumindest. Was jemand tut, tut er nicht einfach so, sondern mit einem bestimmten Zweck.

Herr Horn ist ein Schleimer, ein Schmeichler, der das Beste will für das Gebäude, und dafür mutmaßlich auch gerne ein paar der Mieter loshaben will. Erik Behr (Christian Berkel) ist ein Querulant mit Blockwartmentalität, voller Misstrauen gegen alle, der offenbar damit schon bei allen einen Ruf weghat – aber vielleicht hat er diesmal recht, wenn er Luxussanierung und Rausschmiss befürchtet? Karsten Jung (André Szymanski) ist Musiker, er hält zu Erik, mauschelt zugleich mit Horn – wenn die Bäckerei rausmuss und dafür ein Ort hinkommt, wo kleine Konzerte stattfinden können: Das wäre doch toll!

Und Henrike, die läuft durch den Tag. Ist ihr Vertrauen in die Aussagen von Vermieter und Polizei vielleicht nur gutgläubig? Sie belauscht ihren Mann, der offenbar an der Börse spekuliert – hat er sich vielleicht verspekuliert? Sie übersetzt für die Polizei bei der Befragung einer Frau, die sich verdächtig macht, weil sie ihre Tür nicht geöffnet hat – und muss entsetzt einer brutalen Festnahme zuschauen.

Henrike ist der Mittelpunkt des Films, aber nicht die handelnde Person: Sie schaut, sie läuft mit – und statt ihrer könnte auch jemand anderes die Hauptperson sein. Anne Ratte-Polle beispielsweise, die eine der Nachbarinnen im Hintergrund spielt; oder Hanns Zischler, der einmal die Tür öffnet. Özge hat ihren Film bis in die kleinsten Rollen toll und mitunter prominent besetzt, und weist auf diese Weise subtil darauf hin, dass sie in ihrer Erzählung auch jemand anderes in den Mittelpunkt hätte stellen können. Wie sie auch nie die ganzen Hintergrundgeschichten erläutert, sondern die Vergangenheit der Figuren in ihrem Umgang miteinander nur in Andeutungen aufleben lässt: Genau das ist es, was vielen Filmen fehlt. Dass Backstories vorhanden, aber nicht dargestellt werden. Aslı Özge macht hier wirklich alles richtig.

Sie zeigt, wie sich das Mietshaus abschottet, ein Poller wird erstellt, damit keine Autos mehr in den Hof können: Wer weiß schon, wer da drinsitzt? Herr Horn spricht von Stacheldraht oben auf dem Dach, will, dass die Mieter Verdächtiges melden, verbietet nächtliche Versammlungen, und Videoüberwachung soll es auch geben. Man kann ja nicht einfach alle hier herumspazieren lassen!

Dann findet Erik im Keller eine zerstörte tragende Säule, entdeckt einen versteckten Sicherungskasten – wenn Horn von der Instabilität in der Statik redet und von den häufigen Stromausfällen, sind die vielleicht von ihm selbst verursacht? Özge deutet geschickt an, führt den Zuschauer zu Verdacht und Misstrauen – die sie in der nächsten Szene schon wieder relativieren. Ganz bewusst wird vieles in der Schwebe gelassen, die Zuschauer von Sichtweise zu Sichtweise geführt, ohne dass eine wie auch immer geartete neutrale Instanz deutlich machen würde, was denn da nun wahr ist und was falsch an Behauptungen, Gerüchten und Vorwürfen. Ist ja im wahren Leben auch nicht so – oder gerade doch so?

Mitproduziert wurde Black Box von Jean-Pierre und Luc Dardenne, die in ihre Sozialdramen immer wieder auf die Wunden der Wirklichkeit zeigen. Black Box ist natürlich auch ein Film über die Coronazeit. Die Leute tragen Masken, wenn sie beieinander stehen. Es geht um die manchmal überharten Maßnahmen zur Eindämmung, um Rücknahme von Grundrechten, und ein gewisser Makel schleicht sich ein: Ich habe beim Schauen immer wieder das Gefühl gehabt, eine große Metapher gegen alle Einschränkungen zu sehen, die im Lager von radikalen Querdenkern großen Anklang finden könnte – zumal Erik mit seinen skeptischen Theorien als apologetische Figur für all die wirren Verschwörungstheoretiker gelten kann, die unser aller Leben so schwer machen.

Jenseits dieses etwas mulmigen Gefühls, jenseits der tagesaktuellen Deutungsmöglichkeit, bleibt die Gewissheit, dass Black Box in seiner klugen Dramaturgie, in seiner Art, wie er die Diskurse in eine konkrete Situation einflechtet, in der herausragenden Charakterisierung seiner Figuren, in seinem Gespür für Nuancen, nicht zuletzt in der Spannung, die er erzeugt, weit über den Tag hinaus eine Allgemeingültigkeit besitzt.

Black Box (2023)

Es herrscht Ausnahmezustand. Ein großstädtischer Innenhof ist gesperrt. Aufgrund eines nicht erklärten Vorfalls riegelt die Polizei alle Hofzugänge ab. Die Bewohner sind verunsichert. Gerüchte befeuern allmählich Ängste. Argwohn und Verdächtigungen greifen um sich, Vorurteile spalten die Nachbarschaft. Die Hausgemeinschaft gleicht einem Mikrokosmos der Gesellschaft. Beziehungen beruhen auf Machtstreben und Profitgier. Und vielleicht kommt die eigentliche Gefahr nicht, wie angenommen von außen, sondern von innen…

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Meinungen

wignanak-hp · 17.08.2023

BLACK BOX lässt mich etwas ratlos zurück. Für mich ist die Zeichnung der Figuren teilweise etwas holzschnittartig, klischeehaft. Berkel gefällt mir gut in seinem Spiel. Für mich ist Behr der einzige denkende Mensch in diesem Haus, kein Querulant. Er wird nur immer von Horn so bezeichnet, um ihn vor den anderen zu diskreditieren. Im gesamten Film kommt keine Szene vor, die etwas anderes belegt. Und er ist Lehrer! Das genügt scheinbar (Klischee!). Kann es sein, dass es heutzutage schon genügt, unbequeme Fragen zu stellen, um als Querulant abgestempelt zu werden? Die im übrigen alle von Horn unbeantwortet bleiben. Sitzen wir hier nicht schon der heuchlerischen Masche des Rattenfängers Horn auf? Sollte man nicht Fragen stellen und Gegenwehr organisieren, wenn man merkt, dass da ein Gefüge wie hier die Hausgemeinschaft in Gefahr gerät, zum Spekulationsobjekt zu werden?