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Ein Mädchen verschwindet; das zweite innerhalb eines Jahres. Also kehrt die Reporterin Camille Preaker in ihre Heimatstadt in Missouri zurück. Die HBO-Mini-Serie „Sharp Objects“ nach einem Roman von Gillian Flynn dreht sich um Familiengeheimnisse und zerstörerische, kaum zu beherrschende Wut.

Sharp Objects (Mini-Serie, 2018)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Überall tote Mädchen

Big Little Lies wurde im Vorfeld als Vergleich angeführt, sobald es um die neue HBO-Serie Sharp Objects ging. Tatsächlich scheint das auf den ersten Blick nahezuliegen: Beide Serien basieren auf einem Kriminalroman von einer Autorin, die Regie führt beide Male Jean-Marc Vallée und an die Stelle der Produzentin und Darstellerin Reese Witherspoon tritt nun Produzentin und Hauptdarstellerin Amy Adams. Aber schon die erste Folge der Serie zeigt deutlich, dass dieser Vergleich in die Irre führt: Sharp Objects hat eher Ähnlichkeiten mit True Detective.

In beiden Serien führt ein totes Mädchen die Ermittler zu ihren eigenen Dämonen und in ihre traumatische Vergangenheit. An die Stelle von Rust Cohle tritt nun Camille Preaker (Amy Adams), eine bestenfalls drittklassige Reporterin, die den Tod ihrer Schwester bis heute nicht verarbeitet hat. Wie Cole trinkt sie, um zu vergessen. Dann geschieht ein Mordfall: In ihrer Heimatstadt Wind Gap in Missouri verschwindet zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres ein Mädchen, am Ende der ersten Folge wird ihre Leiche gefunden. Camilles Chef glaubt, es sei eine gute Idee, sie dorthin zu schicken. Er weiß, dass sie ihre Vergangenheit loswerden muss und schiebt deshalb den persönlichen Bezug vor, den sie zu dem Ort hat. Also macht sich Camille auf den Weg in die Kleinstadt in Missouri.

Womöglich erhofft auch sie sich – wie schon so viele Ermittler vor ihr – eine Art Absolution, wenn sie diesen Fall löst. Tatsächlich aber steht in Sharp Objects die Ermittlung nicht im Mittelpunkt, sie läuft eher nebenher, während sich die Serie zu etwas ganz Eigenem entwickelt: Sie erzählt von den Verletzungen, die Frauen erleiden und einander zufügen. Schon in den Büchern von Gillian Flynn sind wundervoll viele komplizierte Frauen, die fehlerhaft, obszön, unsympathisch oder schlichtweg böse sein dürfen.

In Wind Gap findet man sie alle. Allein die Preakers versammeln Archetypen des Weiblichen: Camille ist die verlorene Tochter, die nach Hause zurückgekehrt, eindrucksvoll gespielt von Amy Adams in einer Mischung aus Südstaatenprinzessin und White Trash. Stets hat sie etwas Strahlendes, aber zugleich ist ihre Zerbrechlichkeit zu spüren. Camilles Mutter ist die kühle Matriarchin Adora, die über das Haus und als größte Arbeitgeberin auch über den Ort herrscht. Fantastisch gespielt von Patricia Clarkson ist sie eine innerlich verrottete Südstaatenschönheit, stets auf das Ansehen bedacht und doch besessen von dem Wunsch, gebraucht zu werden. Und dann gibt es noch Amma (Eliza Scanlen), Camilles jüngere Halbschwester. Sie kennt sie gar nicht, sie wurde geboren, nachdem ihre andere Halbschwester Marian (Lulu Wilson) starb. Amma ist eine jener jungen Frauen, die wissen, dass ihr Aussehen und ihr Körper ihnen Macht über die Menschen und insbesondere die Männer gibt. Aber das reicht nun einmal nicht. In der siebten Folge wird sie zu Camille sagen, dass es einfach sei, Männern zu gefallen, indem man sie einfach Dinge machen lasse. Aber mit Mädchen sei es viel schwieriger, die würden sie nicht mögen, sie würden sie fürchten. Eliza Scanlen schafft den Spagat zwischen bravem Mädchen und allzu junger femme fatale mühelos, innerhalb weniger Sekunden verändert sie ihre Körpersprache und Mimik vollends – und entwickelt sich zum heimlichen Star dieser Serie.

Vieles fordert an Sharp Objects heraus: Das langsame Erzähltempo, die offensichtlichen Unfähigkeiten der Figuren. Dennoch fasziniert diese Serie durch das konstante Hinterfragen von Rollen und Rezeption von Frauen. Allzu oft auf Schlagworte reduziert, findet man hier keine Girl Power oder „starke“ Frauenfiguren, keine Rächerinnen. Sondern Mütter, die nicht vergessen, ihre Töchter daran zu erinnern, dass sie sie nicht lieben. Mädchen, die keine Gelegenheit auslassen, diejenigen niederzuzwingen, die sich nicht den gesellschaftlichen Erwartungen unterwerfen. In Gillian Flynns Buch steht, dass Wind Gap eine Stadt sei, die von ihren Frauen größtmögliche Weiblichkeit verlangt. In der Serie ist das in jedem Bild zu sehen.

Und dann sind da die Männer. Sie sind in Wind Gap so sexistisch, dass allein die Idee, die Mädchen könnten von einer Frau ermordet worden sein, abgelehnt wird. Solch grausame Mord können nach ihrer Vorstellung nur von Männern begangen und aufgeklärt werden. Die Serie an sich aber dreht die Machtverhältnisse um, sie schiebt die Männer an den Rand: Da ist Ammas Vater Alan (Henry Czerny), der weitgehend stille Erfüllungsgehilfe der Mutter; da ist der örtliche Sheriff Bill Vickery (Matt Craven), der weit mehr weiß als er möchte; und natürlich Detective Richard Willis (Chris Messina), der Ermittler von außerhalb, der Camille gerne retten würde, im entscheidenden Moment aber seine überkommenen Vorstellungen nicht überwinden kann.

Camille ist das Zentrum von allen – sie ist weder Heldin noch Anti-Heldin, kein Monster, keine Heilige, sie ist schlichtweg unzulänglich, brüchig, sie ist verletzt. Innerlich und äußerlich. Denn Sharp Objects nimmt den weiblichen Körper genau in den Blick. Camilles Körper ist übersät von Narben, als Teenagerin begann sie, sich zu ritzen, sich Wörter in den Körper zu schneiden. Es ist eine sehr weibliche Art, mit Schmerz umzugehen. Diese Krimiserie, also ein Genre, das auf den Schaden, der Frauenkörpern zugefügt wird, regelrecht fixiert ist, nimmt diesen Schmerz in den Blick. Geschlagene, zerschundene Körper dienen in aller Regel dazu, von der geheimnisvollen und faszinierenden Psyche von Männern zu erzählen, ob als Täter und/oder als Ermittler. Hier aber ist Camilles Körper das wahre Geheimnis der Serie, hier wird Camille vom Objekt zum Subjekt. Junge Frauen, so heißt es einmal in Sharp Objects, müssten ihre Körper kontrollieren, weil Jungs es nicht können. Und Camille hat die Kontrolle über ihren Körper übernommen – auf schmerzhafte Weise. Aber ihr Körper soll nicht schockieren, er repräsentiert ihr Innenleben und ist ihr Mittel, Rache zu üben. Wenn in der siebten Folge der unverletzte, unversehrte Körper von Richard Willis zu sehen ist, lässt er deutlich erkennen, dass er Camille und ihren Schmerz niemals verstehen wird.

In dieser Serie spielen alle Details eine Rolle: Die Musik, die Wörter, die Camille sich eingeritzt hat. Jede Episode ist mit einem dieser Wörter übertitelt, darüber hinaus finden sich andere Wörter als Hinweise an verschiedenen Orten, die leicht übersehen werden könnten. Dazu kommt eine eindrucksvolle Bildsprache, in der Vergangenheit und Gegenwart, Traum, Realität und Erinnerung ineinanderfließen, immer wieder ist zu sehen und zu spüren, wie präsent Vergangenes sind. Kamera und Schnitt gleiten zwischen den Zeiten, sie lassen bisweilen die Orientierung verlieren. Die Musik verändert Bedeutungen und liefert Hinweise. Sharp Objects ist eine faszinierende, vielschichtige Serie, die mehr als einmal gesehen werden muss, um alle Hinweise zu entschlüsseln.

Sharp Objects (Mini-Serie, 2018)

Basierend auf einem Buch von Gillian Flynn (Gone Girl) erzählt Jean-Marc Vallée in der Mini-Serie Sharp Objects von einer Reporterin, die von ihren inneren Dämonen heimgesucht wird, als sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um dort über einen brutalen Mord zu berichten.

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