Loveless (2017)

Geschichte einer emotionalen Vergletscherung

Bereits mit seinem vorigen Film Leviathan hatte Andrei Zvyagintsev den Wettbewerb von Cannes 2014 auf eine emotionale Achterbahnfahrt geschickt, drei Jahre später gelang ihm mit Loveless noch einmal das gleiche. Sein wuchtiges, formal strenges Werk über das Auseinanderbrechen einer Familie und das Verschwinden eines kleinen Jungen zeichnet dabei ein schonungsloses Bild der russischen Gesellschaft, in der Vertrauen und Schutz nicht einmal mehr innerhalb einer Familie funktionieren.

Alyoscha heißt der Junge, den die Kamera ist einer der ersten meisterhaften Einstellungen erst nach einiger Zeit aus der Masse herausschält. Lange verweilt sie zuvor in einer starren Einstellung auf einem Schulhof und dem Ausgang, aus dem sich Kinder nach dem Ende des Unterrichts herausbegeben. Erst ganz zum Schluss bewegt sie sich und folgt einem der Kinder – eben Alyoscha – auf seinem Weg durch einen urtümlichen Wald, der im Kontrast zu der hässlichen Hochhausanlage steht. Es sind die letzten Momente der Ruhe, des Verweilens, denn was den Jungen zu Hause erwartet, wird ihn schließlich hinweg treiben und letzten Endes sein Verschwinden verursachen.

Alyoschas Mutter Zhenya ist nicht nur achtlos, sondern verhält sich geradezu aggressiv gegenüber dem Jungen; als eine Familie zu einer Besichtigung kommt, weil die Wohnung verkauft werden soll, setzt es eine Kopfnuss, weil ihr Sohn nicht schnell und ordentlich genug grüßt. Es ist die einzige Form von „Aufmerksamkeit“, die Zhenya für Alyoscha übrighat, sonst würdigt sie ihn keines Blickes, sondern tippt die ganze Zeit auf ihrem Smartphone herum. Später kommt Boris, Alyoschas Vater und Zhenyas Noch-Ehemann, dem diese kaum freundlicher begegnet. Beschimpfungen und Flüche lassen deutlich werden, dass diese Ehe längst nur noch auf dem Papier besteht, zumal sich beide Partner, wie sich später herausstellen wird, längst anders orientiert haben. Der einzige, der bis zu diesem Tage nichts davon weiß (aber ganz sicher die Spannungen und Streitereien gespürt hat), ist Alyoscha. Doch als die Mutter nach dem heftigen Streit in ihrem Schlafzimmer verschwindet, während es sich der Vater auf der Couch „gemütlich“ macht, schließt sich eine Tür, hinter der sich Alyoscha befindet, und sein Gesicht ist gezeichnet von Schmerz und Entsetzen, der Mund verzerrt und zu einem stummen Schrei geöffnet. Es ist das letzte Bild, das der Zuschauer von dem Kind sieht – und es ist eines, das sich einprägt, das trotz des Verschwindens diesem Film fortan eingeschrieben sein wird.

Bis Zhenya und Boris Alyoschas Verschwinden bemerken, wird einige Zeit vergehen, erst der Anruf der Schulleitung bringt es an den Tag. Das liegt unter anderem daran, dass beide Elternteile so viel Zeit und Energie für den Aufbau ihres neuen Lebens verwenden, so dass für das alte – und damit den Jungen – keine mehr da ist. Immer wieder betont Zhenya in Gesprächen sowohl mit Boris als auch mit ihrem neuen Liebhaber, dass sie das Kind nie gewollt habe, dass es besser gewesen wäre, wenn sie sich damals mit ihrem Wunsch nach einer Abtreibung durchgesetzt hätte. Boris’ neue Partnerin ist selbst schwanger, zugleich erfordert das Verbergen seiner familiären Situation Aufmerksamkeit, da sein Chef ein christlich-orthodoxer Fundamentalist ist, der keinerlei zerrüttete Verhältnisse bei seinen Angestellten duldet. Angeblich, so flüstert ihm ein Arbeitskollege zu, gäbe es irgendwo einen Angestellten innerhalb der Firma, der tatsächlich geschieden sei, doch der habe sich so schnell wiederverheiratet, dass dies von der Geschäftsleitung unbemerkt geblieben sei.

Was folgt, ist die fieberhafte Suche nach dem Alyoscha, bei der auch die Eltern mitwirken, weil das schlechte Gewissen und womöglich auch die Einsicht um die eigenen Fehler sie dazu antreibt. Zuerst nimmt sich die Polizei der Angelegenheit an, später wird eine freiwillige Hilfsorganisation die Nachforschungen fortführen. Es wird eine Reise durch verlassene Gebäude, in Kranken- und Leichenschauhäuser, zu Schulkameraden, doch jede noch so kleine Spur führt ins Leere und verdeutlicht letzten Endes nur, wie wenig die Eltern über ihr Kind eigentlich wissen.

An einer Stelle heißt es aus dem Radio, dass die Prophezeiung des Endes der Welt durch den Maya-Kalender die Menschen in Russland in hysterische Angst versetzt habe. Zvyagintsevs Apokalypse ist viel kleiner – und doch geht sie tief unter die Haut: Die letzten Tage Alyoschas, von dem am Ende nicht viel mehr bleiben wird als ein Absperrband, das von einem Baum herabhängt, sind nur nicht deswegen so emotional bewegend, weil man mit nur einem Bild all die Verwahrlosung und Rücksichtslosigkeit verdichtet zu sehen bekommt. Sie sind es auch, weil Zvyagintsev jenseits und zwischen der Bilder eine Ahnung davon vermittelt, dass Alyoscha kein Einzelfall und die Gefühlskälte seiner Eltern keine Ausnahme, sondern eher die allgemeine Geisteshaltung im Russland unter Wladimir Putin sind.

Loveless (2017)

Abermals beschäftigt sich der russische Ausnahmeregisseur Andrei Zvyagintsev mit dem Erodieren gesellschaftlicher Strukturen in seiner Heimat. In seinem Film Loveless geht es um das Auseinanderbrechen einer Familie und das Verschwinden eines kleinen Jungen.

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Meinungen

Martin Zopick · 14.05.2020

Der Film ist eine einzige Anklage an die Eltern Zhenya (Marjana Spiwak) und Boris (Alexei Rosin), die sich unentwegt verbal zerfleischen und sich ständig nur um sich selbst drehen. Hier ist Zhenya die Giftspritze, die unbedingt die Scheidung will. Boris verteidigt sich nur, wenn er in eine Ecke gedrängt wird. Leidtragender ist der kleine Aljoscha (12) (Matwei Nowikow). Weil er die ständigen Streitereien der Eltern mitanhören muss, begreift er, dass er ungewollt und ungeliebt (Titel) ist. Also verschwindet er auf nimmer Wiedersehen. Nach unseren Sehgewohnheiten sind wir es gewöhnt, dass ihn Polizei und freiwillige Helfer nach ein paar Tagen finden. Hier bleibt Aljoscha verschwunden. Selbst in der Not der Angst verbünden sich beide Eltern nicht.
Jeder orientiert sich anderweitig neu und ändert sein Verhalten nicht. Boris hat ein Baby, das ihn nervt. Er knallt es in den Laufstall und auch Zhenya macht weiter Karriere. Das Laufband scheint ihr wichtiger zu sein als Kinder.
Es ist eine trostlose, kalte Welt. In seiner Kameraführung und Bildeinstellung erinnert Regisseur Andrey Swjagintzew an Tarkowski, dem der Plot sicherlich gefallen hätte.