Best of Éric Rohmer

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Man hat immer was zu sagen

„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist / und der Himmel violett / weiß ich, daß das meine Zeit ist / weil die Welt dann wieder breit ist / satt und ungeheuer fett“ (Konstantin Wecker, 1976).
„Man hat immer was zu sagen“, frotzelt der kleine Junge in Éric Rohmers frühem Kurzfilm Véronique und ihr Faulpelz von 1958. Und damit ist zugleich schon alles über Éric Rohmer gesagt? Nicht ganz, denn der große Autorenfilmer hatte im übertragenen Sinne tatsächlich nicht nur immer etwas zu sagen — über Filme wie Figuren, über Jahreszeiten wie Literaturgenres. Kurzum: Er war ein Künstler À rebours, so wie der berühmte Romantitel aus der Feder von Joris-Karl Huysmans lautet. Dementsprechend ‚gegen den Strich‘ gebürstet waren auch seine filmischen Taten, die zu keiner Zeit irgendwelchen Kinomoden hinterherliefen. Bis zuletzt – und bereits hochbetagt – stellte sich Rohmer robust gegen den Wind der Filmgeschichte, der ihn nunmehr selbst schon etwas aus den Köpfen der Kinojünger geweht hat…

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist… fangen Rohmers Filme erst richtig an: Der 2010 verstorbene und mittlerweile etwas ins intellektuelle Abseits geratene frühere Chef-Theoretiker der legendären Nouvelle-Vague-Bewegung spürte in seinem gewaltigen, streng komponierten Oeuvre passioniert den Jahreszeiten nach. Und darin besonders leidenschaftlich den Lieb- wie Leidenschaften seiner Protagonisten – mit unvergesslichen Dialogen, die längst in die Annalen der Kinogeschichte eingegangen sind.

Beispiele gefällig? Bitteschön, wie wäre es mit diesem hier aus Das grüne Leuchten (1986)? „Man trifft immer dann jemanden, wenn man am wenigsten damit rechnet.“ Oder Pascal Greggory im vielleicht zugänglichsten Rohmer-Opus überhaupt, Pauline am Strand von 1982: „Wenn man jemanden liebt, will man zurückgeliebt werden.“

Was bei Éric Rohmer manch einem Zuschauer im ersten Moment zu banal, schlichtweg zu durchlässig erscheinen mag, erweist sich dagegen im globalen Cineasten-Unterbewusstsein als erstaunlich nachhaltig, ja geradezu ins Hirn einbrennend. Interessanterweise werden dessen ganz auf die Macht der Worte setzende Filmkunststückchen nach wie vor im fernen Japan besonders stark rezipiert: Dialogzeilen wie „Die Perversität interessiert mich schon“ (aus Die Sammlerin, 1967) oder „Ein Mädchen streicheln, das man nicht mag, ist der Gipfel der Amoralität“ aus demselben Film, sind dort im kollektiven Filmgedächtnis fest verankert.

„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist / und die Luft nach Erde schmeckt / ist’s egal, ob man gescheit ist / wichtig ist, daß man bereit ist / und sein Fleisch nicht mehr versteckt“ (Konstantin Wecker, 1976).

Ähnliches gilt für strenge Anhänger des lange Zeit europäisch geprägten cinéma des auteurs, dem sich der Meisterregisseur von Beginn an innerlich stark verbunden fühlte, wenn sie sich den Rohmer-Klassiker Meine Nacht bei Maud (1969) in Erinnerung rufen – und sie sogleich wieder in den magischen Sprachsog des dezidierten Autorenfilmers gezogen werden: „Dann erzähle ich Ihnen mein Leben.“ – „Das dauert…“ Ja, wenn’s mal wieder länger dauerte bei Rohmer, dann scheuchte das zu Lebzeiten des Franzosen durchaus schon mal den ein oder anderen Betrachter seiner Film-Kunst-Werke schlagartig aus den Sitzreihen, wobei das den leisen König der französischen Nouvelle Vague selbst im Grunde nie wirklich interessierte.

„Meine Filme sind voll von kulturellen und architektonischen Zitaten“, erklärt Rohmer beispielsweise ebenso klar wie lapidar im Bonusmaterial der neuen, zehnteiligen Arthaus-Edition aus fast allen Werkphasen (10 DVDs) seinen eigenen, sehr spezifischen Ansatz als Filmkreator, auf den sich ein Publikum durchaus vorbereiten, quasi von vornherein einlassen (können), muss. Andernfalls verliert es – aus Regiesicht wohlwollend einkalkuliert – mit Sicherheit schon nach gut 30 Minuten die Lust am Sehen wie den Faden zum Verstehen. Denn Rohmers fein austarierte Kinoarbeiten sind nichts weniger als riesige Interpretationsmeere: Ozeane des Sagens und Hörens, des Fragenstellens und Antworten-Verweigerns. Allein die Sprache lotst den interessierten Rezipienten durch das Dickicht der Blicke wie durch die amourös verzwickten Liebesfallen im scheinbar endlos dahin fließenden, sprachlich herausfordernden Rohmer-Duktus.

„Und dann will ich, was ich tun will, endlich tun / An Genuß bekommt man nämlich nie zu viel / Nur man darf nicht träge sein und darf nicht ruhn / denn Genießen war noch nie ein leichtes Spiel“ (Konstantin Wecker, 1976).

Was sich obendrein auch biografisch begründen lässt: Schließlich verstand sich Jean-Marie Maurice Schérer, so der Geburtsname des Franzosen, der sich in seinen 89 Lebensjahren gleich mehrere Pseudonyme einfallen ließ (u.a. Gilbert Cordier, Dirk Peters oder Sébastien Erms), selbst in erster Linie als Literat, als Mann des Wortes wie des Sinns. Kein Wunder, schließlich hatte Rohmer zuerst klassische Literatur in Paris studiert, wo er auch von 1944 bis 1955 als Lehrer tätig war, ehe er sich dem Filmemachen bzw. dem Schreiben über Film (z.B. ab 1959 als offizieller Chefredakteurs-Nachfolger von keinem geringeren als André Bazin innerhalb der immens einflussreichen Cahiers du cinéma) konkreter zuwandte.

Zudem hatte der große französische Nachkriegsintellektuelle bereits 1944 seinen ersten und einzigen Roman (Elisabeth) publiziert, der erst 2003 in der deutschen Übersetzung vorlag – und hierzulande nur wenig besprochen wurde. 1955 war das dagegen noch ganz anders: Rohmers populärer Essay Celluloid et le Marbre (Zelluloid und Marmor) wurde damals im Kreise der neuen Filmemacher-Generation um Godard, Rivette oder Truffaut breit diskutiert, obwohl sich der Filmemacher selbst bereits relativ früh von seinem Text distanziert hatte: Ein weiteres Paradoxon im Leben des nicht unumstrittenen Kino-Balzacs, gerade auch diesseits des Rheins: In Deutschland, obwohl sich Rohmer wiederum zeitlebens sehr stark mit deutschen Themen, (Film-)Ästhetikern oder Philosophen auseinandersetzte.

„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist / und der Himmel ein Opal / weiß ich, daß das meine Zeit ist / weil die Welt dann wie ein Weib ist / und die Lust schmeckt nicht mehr schal“ (Konstantin Wecker, 1976)

Über den filmspezifischen Raum in F.W. Murnaus Goethe-Adaption (Faust – eine deutsche Volkssage, 1926) hatte er beispielsweise promoviert. Gerne sprach der insgesamt eher öffentlichkeitsscheue Filmemacher im französischen Fernsehen über seine Faszination an der deutschen Romantik sowie der späten Goethe-Zeit. Und trotzdem wurde Rohmer – ein weiteres Paradoxon – auf deutscher Rheinseite oft ‚nur‘ als Filmregisseur wahrgenommen und nicht durchwegs als (film-)theoretischer sowie intellektueller Kopf, obwohl er doch zum Beispiel mit Claude Chabrol 1955 die erste Hitchcock-Monografie überhaupt (!) geschrieben hatte. 2013 wurde sie endlich vom deutschen Filmhistoriker Robert Fischer ins Deutsche übersetzt.

Unabhängig vom jeweils eigenen Verständnis der Persona Rohmer lädt diese neu zusammengestellte Edition auf jeden Fall dazu ein, sich ein weiteres Mal (zumindest) mit Teilen seiner drei kolossalen Film-Zyklen (‚Sechs moralische Erzählungen‘ / ‚Komödien und Sprichwörter‘ / ‚Erzählungen der vier Jahreszeiten‘) vertieft auseinanderzusetzen, auch wenn in dieser Kompilation bedauerlicherweise Rohmers filmisch exquisite Auseinandersetzung mit dem Kleist’schen Gedankenkosmos (Die Marquise von O. / 1976) fehlt, ebenso wie dessen opulentes, technisch versiertes Historienfilmprojekt Die Lady und der Herzog (2001): Beide Filme sind deutlich mehr als nur ergänzende Teilchen aus dem Gesamtwerk des Franzosen.

Doch sei’s drum, denn aus Rohmers Goldenem-Löwen-Gewinner Das grüne Leuchten weiß der Kinogänger ja längst: „Da ich mit gar nichts rechne, bin ich gespannt, was passiert.“ Von daher wäre es Rohmer postum – wie manchem Zuschauer der Gegenwart – wirklich zu wünschen, dass eine erneute Auseinandersetzung mit seinem in der Tat bemerkenswerten Oeuvre keine Utopie bleibt. Schließlich verwendete er „seine Kamera wie ein Mikrofon“, wie das Michael Althen einmal so elegant wie präzise formulierte. Oder um es noch einmal im autoreflexiven Wunsch des Meisters selbst auszudrücken (aus dem essayistisch formidablen Kurzfilm Die Metamorphosen der Landschaft im Bonusmaterial): „… dass uns bei aller Strenge ein Türchen zum Träumen offen bleiben wird.“

Best of Éric Rohmer

„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist / und der Himmel violett / weiß ich, daß das meine Zeit ist / weil die Welt dann wieder breit ist / satt und ungeheuer fett“ (Konstantin Wecker, 1976).
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