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Ein Leben zwischen Countrymusik, Mutterschaft und finanziellen Nöten. Tom Harpers „Wild Rose“ zeichnet mit großer emotionaler Ehrlichkeit das Porträt einer Frau, für die Musik ihr Leben bedeutet.

Wild Rose (2018)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

A Stage of One’s Own

Tom Harper braucht nur wenige Minuten, um uns Hals über Kopf in seine Protagonistin Rose-Lynn (Jessie Buckley) verknallt zu machen. Mit offenen Augen und heißem Herzen, hoffnungslos. Wie sie aus dem Gefängnis entlassen wird, die Ungeduld in den Fingern, die Freiheitslust in den Augen, das Lächeln — dieses Lächeln! — im Gesicht. Sie sitzt im Bus zurück nach Glasgow, die Kopfhörer auf dem Kopf, Country im Ohr, ihrem und unserem, ein kurzer Besuch bei ihrem Freund, ein schneller Fick auf dem Rasen, unterm offenen Himmel.

Und diese Liebe brauchen wir auch, denn wie sonst sollten wir den Rest durchstehen? Die Tonlage ändert sich, als Rose-Lynn dann noch am gleichen Abend wirklich nach Hause kommt, zu ihrer Mutter Marion (Julie Walters) und vor allem ihren zwei Kindern Lyle und Wynonna (Adam Mitchell und Daisy Littlefield). Sie hat die beiden seit einem Jahr nicht gesehen, und es ist schmerzhaft deutlich, wie wenig sie versteht, mit den beiden zu sprechen – und wie sehr es ihr selbst wehtut, das zu bemerken.

Rose-Lynn will eigentlich so weiter machen wie vor dem Knast: Schnell rauf auf die Bühne, Country singen, und dann irgendwie, irgendwie nach Nashville, wie sollte es sonst weitergehen? Musik machen, das ist alles, was sie kann und will. Aber ihre Mutter bremst und widerspricht: Da sind die Kinder, sie muss Verantwortung übernehmen, eigenes Geld verdienen. Nur widerwillig lässt sich die wilde Tochter darauf ein, bezieht eine Wohnung, nimmt eine Putzstelle an, wo sie mit Kopfhörern und Country durch die Räume tanzt.

Man könnte wahnsinnig werden, wenn man ihr dabei zuschaut, wie sie im großen Haus ihrer Arbeitgeberin Susannah (Sophie Okonedo) herumgeht und die Spirituosen probiert, wenn niemand da ist, wie sie lügt, um etwas mehr Stundenlohn zu bekommen, wie sie Susannah gegenüber ihre Kinder verleugnet (eine Lüge, aus der sie dann später nicht mehr herauskommt). Wie sie stolz ihr Tattoo vorzeigt: „three chords and the truth“, und doch nur an die Akkorde denkt, nicht an die Wahrheit.

Denn singen kann sie ja, Jessie Buckley wirft sich in diese Musik hinein, mit ihrem ganzen Körper und ihrem Gesang, voll und groß und geradeheraus wird ihre Stimme dann auf einmal, ganz anders als bei ihren Gesprächen mit ihrer Mutter und Susannah, wo sie immer skeptisch bleibt, immer abwägend, immer ein wenig lauernd und berechnend. Ihre Rose-Lynn ist ruhelos, fast manisch in allen Momenten, aber sobald sie Musik hört, es um Musik geht, dann wird sie zielstrebig und begeistert, auch ganz ruhig und fokussiert – und Harper begleitet diese Momente durch eine Kamera, die dann das Gesicht seiner Hauptfigur in den Blick nimmt.

Jenseits von Klischees und Zuspitzungen erzählt der Film auch seine Geschichte von sehr lokalen Zuständen – die Figuren sprechen in der Originalfassung ein schottisches Englisch, das an manchen Stellen kaum zu verstehen ist – und in vielen kleinen Andeutungen von Klassenunterschieden im Großbritannien der Gegenwart. Da ist der mühsame Alltag von Marion, die ihr Leben um ihre Enkelkinder herum organisiert hatte und diese Last nun ihrer Tochter abgeben will. Da ist die Gelassenheit von Susannah und ihrem Mann, die sich hochgearbeitet haben – und in deren Leben eben doch Geld und Chancen etwas sind, was leicht mit ein paar Anrufen und E-Mails erreicht werden kann.

Dass es Harper mit seinem Film jedoch nicht primär um die harten Realitäten und sozialen Realismus geht, wird sehr schnell deutlich – Wild Rose ist eine in ihrer Auflösung fast märchenhafte Geschichte von Befreiung aus vor allem selbst aufrechterhaltenen Beschränkungen. Wobei alles dann doch einen Hauch zu leicht gelingt, um wirklich realistisch zu sein. In den Kitsch driftet der Film deshalb aber noch lange nicht ab, ganz im Gegenteil.

Seine emotionale Ehrlichkeit gelingt Wild Rose – und der Regisseur weiß das genau – durch seine Darstellerinnen, durch Buckley, Okonedo und Walters. Julie Walters allein ist schon ein leuchtender Diamant in diesem Film, ihre Marion ist von den Erfahrungen ihres Lebens verhärtet, mit nahezu erstarrtem, wie ausdruckslosem Gesicht – und dann drückt sich in ihren Augen, in kleinen Bewegungen der Mimik so viel Schmerz und Sorge und Liebe aus, dass man zerbrechen könnte beim Zuschauen.

Überhaupt ist Wild Rose ein Film ganz und gar über seine Frauen – die Männer tauchen nur am Rande auf, mal ein wenig fördernd, mal ein wenig hinderlich. Dafür lässt Harper seinen Hauptdarstellerinnen allen Raum und die ganze Bühne, oft in ruhigen Nahaufnahmen, und da ist auch ohne große Worte alles drin, Emotion, Geschichte, Erfahrung und Hoffnung, in wenigen Sekunden.

Hier wird keine junge Sängerin von einem älteren Mentor entdeckt und auf die Bühne gebracht, es sind hier ganz und gar die Frauen, die sich gegenseitig in Bewegung bringen. Ein proletarisches „Room of One’s Own“ gewissermaßen – nur dass es eben nicht um den eigenen Raum geht, sondern um den Platz tief im eigenen, wahrhaftigen Leben, das dann erst die Möglichkeit öffnet für große Musik.

Wild Rose endet, nach verschlungenen Wegen und vielen, vielen Tränen dieses Kritikers, mit einem großen Auftritt, mit Liebe der Mutter zur Tochter und Liebe der Tochter zur Mutter, mit einem Berg Emotion, meisterhaft in Musik gegossen, three chords and the truth; und dann einem kleinen, feinen, herzzerreißenden Moment, in der Art und Weise, wie Wynonna, die vorher ihrer Mutter oft still, stets skeptisch und manchmal feindlich gegenüberstand, sie plötzlich auf der Bühne ansieht.

Im kleinen Lächeln des Kindes sammelt sich, wie groß sein Glück ist, endlich auch die Mutter glücklich zu sehen, bei etwas, das sie gerne tut – und wie sehr sich damit ihre eigenen Perspektiven in der Welt vergrößern. Denn in seinem Herzen erzählt Wild Rose davon, was in unserem Leben alles möglich wird, wenn wir aufeinander bauen können.

Wild Rose (2018)

Die gerade aus dem Knast entlassene Rose-Lynn Harlan steckt voller Talent, Ausstrahlung und Lebensfreude. Die Mutter zweier Kinder will nichts dringlicher, als Glasgow endlich den Rücken zu kehren und sich auf den Weg nach Nashville zu machen, wo sie auf eine Karriere als Countrysängerin hofft. Doch ihre Mutter erinnert sie immer wieder an ihre Verpflichtungen den Kindern gegenüber — und so fügt sich Rose-Lynn ihrem Schicksal. Vorerst zumindest … 

 

 

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