Log Line

Shariff Nasr lässt in „The Love – Lass die Liebe sprechen“ Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen und schildert mit kreativen Mitteln ein spätes Coming-out.

The Love - Lass die Liebe sprechen (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

In der Abstellkammer

Das englische Idiom „in the closet“ wird meist verwendet, wenn es um nicht-heteronormative Menschen geht, die ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität noch nicht im privaten und/oder im öffentlichen Kreis mitgeteilt haben. Das Coming-out, das „Herauskommen“ (aus dem sinnbildlichen Schrank), bezeichnet wiederum den Prozess der Bekanntgabe.

Im queeren Kino war das Coming-out-Narrativ lange Zeit die dominierende Erzählformel, oft verbunden mit einer Coming-of-Age-Geschichte. Inzwischen hat sich, wie es etwa das Künstler:innen-Kollektiv hinter dem Film Neubau (2020) formuliert, eine „Neue Selbstverständlichkeit“ entwickelt, in der die Queerness der Hauptfigur(en) nicht zwangsläufig im Zentrum der Handlung steht beziehungsweise nicht problematisiert wird. Dennoch bleiben die Konflikte, mit denen queere Personen etwa in ihrem familiären Umfeld durch ihr Coming-out konfrontiert werden, (leider) noch immer ein wichtiges Thema.

Der Regisseur und (Co-)Drehbuchautor Shariff Nasr setzt das Motiv des Coming-outs in seinem Spielfilmdebüt The Love – Lass die Liebe sprechen auf eine spannende und ungewöhnliche Weise um. Zum einen deshalb, weil der Protagonist Karim Zahwani (Fahd Larhzaoui) bereits erwachsen ist – zum anderen (und vor allem) deshalb, weil der Held kurz nach seinem Coming-out nicht „aus dem Schrank“ heraustritt, sondern sich ganz wörtlich in die Abstellkammer seines Elternhauses zurückzieht, damit er sich dort mit seinen Gefühlen befassen und zugleich seine Eltern dazu bringen kann, sich nun mit ihm auseinanderzusetzen.

Die Familie von Karim stammt aus Marokko und lebt in den Niederlanden. Karim ist als Geschäftsmann erfolgreich und führt eine Beziehung mit Kofi (Emmanuel Boafo). Durch einen Zufall findet Karims Vater Abbas (Slimane Dazi), der als Postbote arbeitet, heraus, dass Kofi und sein Sohn ein Paar sind. Karim sucht daraufhin seinen Vater und seine Mutter Fatima (Lubna Azabal) auf, um ganz offen über seine sexuelle Orientierung zu sprechen. Als die beiden indes voller Ablehnung darauf reagieren, sperrt er sich in besagtem Raum unter der Treppe ein.

Das Skript, das Nasr zusammen mit Philip Delmaar geschrieben hat, steckt voller prägnanter Szenen, um Karims Situation einzufangen. Als Fatima zu Beginn ihren Mann fragt, wer denn da gerade gekommen sei, antwortet Abbas beim Anblick seines Sohnes, den er kurz zuvor gemeinsam mit seinem Freund in einem intimen Moment erblickt hat: „Niemand.“ Und als Karim daraufhin mit seinen Eltern darüber reden will, dass er schwul ist, konzentrieren diese sich gänzlich auf eine Seifenoper, die im Fernsehen läuft. Während sie bereit sind, sich auf das fiktiv-zugespitzte Drama im TV einzulassen, scheint es ihnen nicht möglich, sich den Gefühlen ihres Sohnes zu widmen.

Im weiteren Verlauf nimmt The Love beinahe surreale Züge an. Der Film arbeitet mit Rückblenden, in denen der gegenwärtige Karim zuweilen als Beobachter zuschaut. Ebenso ist der junge Karim (verkörpert von Shad Issa) gelegentlich in der Abstellkammer anwesend. Die Zeitebenen gehen fließend ineinander über; in einem audiovisuellen Bewusstseinsstrom reflektiert der Protagonist über sein Leben. Mit seinem Kameramann Joris Kerbosch bringt Nasr einfallsreiche Bildideen hervor, um eine schwule Biografie zu zeichnen. Eindrücklich ist etwa, wie Karim als Kind mit seinen Eltern vor dem Fernsehgerät sitzt und dort zum großen Entsetzen der Erwachsenen erstmals einen Kuss zwischen zwei Männern sieht. Während die Eltern hastig zur Fernbedienung greifen, flüstert der Gegenwarts-Karim seinem jungen Ich zu: „Es ist okay, was du fühlst.“

Durch die Tür hindurch führt Karim Gespräche mit seinem Vater und seiner Mutter. Die konservativ eingestellte muslimische Familie wird dabei nicht eindimensional gezeigt, sondern facettenreich charakterisiert. Das gesamte Ensemble legt viel Feingefühl an den Tag. The Love ist keine wütende Abrechnung, auch keine unglaubwürdig-kitschige Versöhnungsfabel, sondern ein differenziert erzähltes, originell in Szene gesetztes Familiendrama.

The Love - Lass die Liebe sprechen (2022)

Der marokkanisch-niederländische Karim erzählt seinen Eltern, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Nach Jahren des Scheins hat er endlich den Mut, sich zu outen. Aber um von seiner konservativen Familie akzeptiert zu werden, muss er sich zuerst mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzen. (Quelle: Cinemien)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen