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Eine junge Frau hat keine Lust, sich ihren Platz in der Gesellschaft zu suchen. Sie will sich das Glück der Zugehörigkeit nicht durch Funktionieren erkaufen. In einer psychiatrischen Klinik nimmt sie sich der gestressten Krankenschwester an, die sie betreuen soll, und öffnet ihr die Augen.

Stillstehen (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Sag Nein zum Eignungstest

Julie (Natalia Belitski) verweigert sich dem Funktionieren. Die Kamera nimmt die auf dem Bett liegende junge Frau ins Visier, tastet sich von den Beinen langsam zu ihrem Gesicht hinauf. In Voice-Over stellt Julie derweil ihre Lebensphilosophie in Kurzform vor. Als sie zum ersten Mal einen Ameisenhügel sah, widerte sie das Gewimmel an, dieses „taube Bedürfnis zu rennen“. Sie zündete den Ameisenbau an und beschloss, keine Ameise zu werden.

Julie tut also nichts. Die menschlichen Ameisen, meint sie, würden das machen, was man von ihnen erwarte und zur Belohnung dürften sie dann dazugehören. Julie trägt stets gelbe Gummihandschuhe, damit man sie für sonderbar hält und in Ruhe lässt. Aber von Zeit zu Zeit will sie dann doch etwas tun, beispielsweise etwas anzünden. Und dann gehört sie wieder dazu, nämlich zu den Patient*innen des Klinikpsychiaters Dr. Hermann (Martin Wuttke), der aus Julie auch nach zehnjähriger Beobachtung nicht schlau geworden ist. Er verfügt, dass die neue Krankenschwester Agnes (Luisa-Céline Gaffron) Julie betreuen soll.

Agnes ist so ganz anders als Julie, sie hat einen Job, einen Mann, eine kleine Tochter, einen Haufen Probleme. Agnes leidet unter dem Druck, sich anzupassen und zu funktionieren, vor allem in ihrer Rolle als Mutter. Sie fühlt sich zu der selbstbewussten, schlagfertigen Julie hingezogen. So beginnt eine Beziehung, die beide Frauen verändern wird.

Die italienische, in Berlin lebende Regisseurin Elisa Mishto fordert mit ihrem Spielfilmdebüt zum Widerstand gegen die Auswüchse der Leistungsgesellschaft und den Druck zur Überanpassung auf. Gerade junge Menschen, die schon in der Schule davor Angst haben, sich durch mittelmäßige Benotungen die Zukunft zu verbauen, hören immer, dass sie sich anstrengen müssen, dass sie besser sein sollen als andere, um einen Ausbildungsplatz oder einen Job zu bekommen. Die japanische Gesellschaft hat auf diese Weise das Phänomen der Hikikomori hervorgebracht. Es bezeichnet junge Menschen, die sich den an sie gestellten Ansprüchen entziehen, indem sie sich im Zimmer der elterlichen Wohnung einschließen, über Wochen, Monate, Jahre.

Julie, die keine Eltern mehr hat, weiß trotz ihres wenig konstruktiven Lebenswandels, dass sich zwei Menschen um sie kümmern. Der eine ist der Psychiater, der andere ihr Finanzberater, Herr Schmidt (Matthias Bundschuh). Doch der Psychiater will die Klinik bald verlassen und der Finanzberater möchte Julie arbeiten sehen, weil sie ihr üppiges Erbe ziemlich radikal aufgebraucht hat. Auch für Julie könnten also harte Zeiten anbrechen. Widerwillig geht sie, begleitet von Agnes, zum Vorstellungsgespräch bei einer Reinigungsfirma. Herr Vogel (Jürgen Vogel) verlangt zu Julies Verwunderung Referenzen und einen Eignungstest. Das ergibt treffsichere satirische Pointen.

Julie aber wirkt nie ganz geerdet und von dieser Welt. Sie ruht meistens emotionslos in sich und steht kühl über den Dingen, wie ein Gast, der in eine Gesellschaft hereingeschneit ist, um den Menschen die Augen zu öffnen. Diese Autarkie gibt dem Charakter und der ganzen Geschichte etwas Künstliches, als handele es sich um ein reines Gedankenspiels.

Was haben Geschichten über die Psychiatrie und über Frauenfreundschaften gemeinsam? Sie kreisen oft, manchmal sogar in der Kombination beider Themen, um Abweichung von der herrschenden Norm und tragen den Keim der Rebellion in sich. Insofern sind Julie und Agnes geistige Schwestern von Thelma & Louise, von Beatrice und Donatella in Paolo Virzìs Die Überglücklichen oder auch von Franny und Mel in Karoline Herfurths Sweethearts, die nach Freiheit und einer neuen Definition ihrer selbst streben. Julie und Agnes gehen sogar den Schritt zur spielerischen Liebe, aber der Funken springt auf das Publikum wegen der besagten Künstlichkeit der Figuren und der Geschichte nicht über.

Wiederholt sucht die Handlung die Nähe zum großen Vorbild Einer flog über das Kuckucksnest. Julie probt den Aufstand gegen eine dominante Krankenschwester, andere Patient*innen wie die von Katharina Schüttler gespielte Katrin schauen gespannt und hellwach zu. Und es gibt den schweigsamen Rainer (Giuseppe Battiston), der an den indianischen Chief Bromden bei Miloš Forman erinnert.

Trotz solcher Filmvorbilder ordnet sich Stillstehen doch selbst eine Nummer kleiner ein. Mit seiner Schrägheit weckt er zuweilen Erinnerungen an den famosen Film Das Zimmermädchen Lynn, aber auch von diesem ist er atmosphärisch meilenweit entfernt. Beispielsweise reicht es für eine skurrile Retrostimmung nicht, Figuren vor capriblau gefärbte Wände zu stellen. Julies Besonderheiten und Macken bleiben trotz einer traumatischen Kindheit irgendwie angedichtet, erscheinen nicht zwingend. Warum Agnes mit ihrer kleinen Tochter nicht zurechtkommt, wird auch nicht ganz schlüssig dargelegt. Die melodiöse Elektromusik von Sascha Ring drückt mehr Gefühl aus als die beiden Hauptfiguren. Trotz seiner Rätselhaftigkeit hat der Film immerhin eine interessante Botschaft, die auch deutlich vermittelt wird: Die Zeit ist reif für mehr Mut zum individuellen Eigensinn.

Stillstehen (2019)

Julie lebt nur nach ihrem eigenen Grundsatz: Nichts tun. Und mit NICHTS meint sie NICHTS: Sie studiert nicht, arbeitet nicht, sie hat keine Freunde. Sie will einfach nur stillstehen. Um sich dem „normalen“ Leben zu entziehen, lässt sich Julie regelmäßig in ihre psychiatrische Wunschklinik einweisen. Hier kennt man sie, hier weiß man wie sie tickt. Dass Julie ohne Gummihandschuhe nicht aus dem Haus geht, oder notfalls auch mal ein Lama aus dem Zoo auf einen Rave entführt, wundert niemanden mehr. Man lässt sie in Ruhe. Das ändert sich schlagartig als sie erfährt, dass ihr Erbe aufgebraucht ist und Agnes in ihr Leben tritt: eine vermeintlich naive Krankenschwester und ihre neue Betreuerin, die stets bemüht ist, alles richtig zu machen. Julie erkennt schnell, dass ihr bisheriges perfektes Nichtstun auf der Kippe steht. Sie fasst einen folgenschweren Entschluss: Um weiterhin stillstehen zu können, muss sie sich bewegen. 

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