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In „L’île rouge“ setzt sich Robin Campillo mit eigenen Erfahrungen als Kind auf einer Militärbasis in Madagaskar auseinander.

Red Island (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Mit den Augen eines Kindes

Der französische Regisseur Robin Campillo wurde 1962 in Marokko geboren und verbrachte einen Teil seiner Kindheit auf einer Militärbasis in der ehemaligen französischen Kolonie Madagaskar. Mitte der 1980er Jahre begann er sein Filmstudium in Paris. In „120 BPM“ (2017) befasste er sich mit dem Pariser Ableger des 1987 in New York City entstandenen Interessenverbandes Act Up (AIDS Coalition to Unleash Power), bei dem er einst selbst in seinem langjährigen Einsatz für LGBTQ-Rechte mitgewirkt hatte.

Sein neues Werk L’île rouge geht nun noch weiter zurück in seine eigene Vergangenheit, um sein Aufwachsen Anfang der 1970er Jahre in Madagaskar zu beleuchten. Campillos filmisches Alter Ego heißt Thomas Lopez (Charlie Vauselle). Mit seiner Mutter Colette (wie immer großartig: Nadia Tereszkiewicz), seinem Vater Robert (Quim Gutiérrez) und seinen beiden Brüdern Alain (Mathis Piberne) und Michel (Sacha Cosar-Accaoui) führt der Achtjährige auf der Militärbasis ein recht geselliges Dasein.

Wir sehen die Familie bei einem Barbecue in großer Runde mit anderen Familien und Paaren, von denen jeweils der Mann bei der Armee tätig ist. Die Stimmung wirkt ausgelassen; militärische Vorfälle werden lediglich als Geschichten innerhalb der Geschichte erzählt und muten daher fern und insbesondere für den kindlichen Alltag nur bedingt relevant an. Es sind die Erlebnisse von Männern, die ohnehin nicht ganz zum Familienkern zu gehören scheinen; das Band zwischen den Müttern und ihren Kindern kommt wesentlich intensiver zur Geltung als die Beziehung zu den strengen Vätern oder das Verhältnis zwischen den Eheleuten.

Mit Thomas steht ein Junge im Mittelpunkt des Geschehens, der einen deutlichen Hang zum Eskapismus hat. Immer wieder flüchtet sich der adoleszente Protagonist in Fantasien, in denen die tapfere Comicheldin Fantômette zum Leben erwacht: eine Waise, die maskiert und in einem Cape aus Seidenstoff gegen Schurken kämpft, die wiederum ausnahmslos Stoffköpfe wie Kasperlefiguren haben.

Nicht nur in diesen liebevoll umgesetzten (Traum-)Sequenzen demonstriert Campillo seinen audiovisuellen Einfallsreichtum. Bemerkenswert sind etwa auch die Momente, in denen sich Thomas auf dem Fahrrad durch die Landschaft bewegt oder den Strand genießt. Das vermeintliche Idyll, das nostalgische Gefühle auslösen könnte, wird dabei indes stets von der leisen Ahnung überschattet, dass etwas daran absolut falsch ist. Das Unwissen des Kindes und das heutige Bewusstsein des Filmemachers über den Kolonialismus finden in dieser ambivalent gehaltenen Inszenierung und in den starken Aufnahmen der Kamerafrau Jeanne Lapoirie einen sehr passenden Ausdruck.

Wunderbar sind die Situationen, in denen das Mysterium der Erwachsenenwelt eingefangen wird. So steht Thomas beispielsweise vor der Wohnzimmertür und beobachtet die abendliche Feier seiner Eltern durch das verfremdende Milchglas einer Scheibe. Das Treiben hinter der Tür hat dadurch etwas von einem impressionistischen Gemälde, das nur aus leuchtenden Farben und flimmerndem Licht zu bestehen scheint. Damit die Kleinen ihre Eltern nicht in diesem seltsamen Zustand sehen könnten, würden die Erwachsenen ihre Kinder so früh ins Bett bringen, meint die leicht angetrunkene Colette zu ihrem Sohn. An anderer Stelle befindet sich Thomas unter dem Tisch und bekommt auf diesem Wege Fragmente der (zum Teil politischen) Diskussion unter Erwachsenen mit.

Als sich ein Paar auf der Basis trennt und der Mann (Hugues Delamarlière) mit der Einheimischen Miangaly (Amely Rakotoarimalala) eine Beziehung eingeht, offenbart sich derweil rasch der Rassismus, der an diesem Schauplatz herrscht. In seinem letzten Drittel vollzieht L’île rouge eine verblüffende Wendung; plötzlich rücken die Verdrängten ins Zentrum – und das aktuelle Bewusstsein setzt sich gänzlich gegenüber der vergangenen Perspektive und einer möglichen Verklärung durch.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Red Island (2023)

Im Mittelpunkt des semi-autobiografischen Dramas steht ein heranwachsender Junge (dargestellt von Charlie Vauselle), der in den 1970er-Jahren auf einem französischen Militärstützpunkt im Indischen Ozean aufwächst. 

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