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In der Buchverfilmung über eine junge Freundesgruppe, die aus der DDR ausbrechen will, badet man vor allem in alten Bildern.

Jenseits der blauen Grenze (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

„Warum singen wir nicht mal was nicht Politisches?“

DDR. Sommer 1989. Hannah (Lena Urzendowsky), Andreas (Willi Geitmann) und Jens (Jannis Veihelmann) sind Freunde und vertreiben sich zusammen die Zeit. Sie lenken sich von der Tristesse um sie herum ab: Es wird Blutsbrüderschaft geschlossen, herumgealbert und Schallplatten, die man sich nie leisten könnte, werden angeschaut. Hannah ist Leistungsschwimmerin und will zur Europameisterschaft. Der Film verfolgt ihren Weg bis zur Flucht aus der DDR.

Jenseits der blauen Grenze ist eine unaufgeregte Projektion von Buchzeilen auf die Leinwand. In gedämpften Farben, irgendwo zwischen weiß und grau, malt Regisseurin Sarah Neumann ein DDR-Märchen. Es ist 1989. Alles, was einen Anfang hat, wird auch enden. Der Film lässt Anfang und Ende nebeneinander laufen. Schwerelos ist man im Wasser, auf festem Boden spürt man die Schwerkraft. Unsichtbare Augenpaare beobachten die Freunde. Hannah ist im Begriff, eine ganz Große zu werden. Der Staat als Verbesserungsapparat – ihre Ergebnisse, der Kanal für Propaganda des Systems. So steht sie stolz auf dem Siegertreppchen und leiert die üblichen indoktrinierten Mantras herunter. Glasige Augen und eine Goldmedaille – ein starkes Bild.

Während die einen sich „radikalisieren“, setzt sich bei anderen der Weg des geringsten Widerstandes durch. Die klassische „Wenn aus dir was werden soll, triff diesen Jungen nicht mehr“-Marotte des Coming-of-Age-Films wird umgesetzt. Dieses Muster zieht sich durch den Film, Bilder scheinen einem immer wieder vertraut – wir schwimmen durch Bekanntes. Generell fühlen sich Szenen zu glatt an. Es fehlt Dreck auf der Kamera. Eine unfreiwillige Assoziation liegt in dem Experiment „@ichbinsophiescholl“ des SWR und BR – ein Instagram Account, der den Alltag der Widerstandskämpferin Sophie Scholl in Content verwandeln sollte. Dort findet man eine ähnliche Ästhetisierung in grauen Pastellfarben. 

Dramaturgisch ist Neumanns Film stärker. Die alternierenden Einblicke in eine vermeintliche Zukunft sind clever – so läuft der Film doppelseitig auf die Mitte hinzu und findet einen recht eleganten Weg, Auslöser und Effekt zusammenzusticken. Wenn einer der Freunde wegzieht, verschwindet er plötzlich aus der Erzählung – in der Konsequenz liegt hier die Stärke. Die Freunde fallen – ob bewusst oder unbewusst – in dasselbe Kollektivdenken wie der Rahmen, aus dem sie ausbrechen wollen. Das Wegziehen wird zum Hochverrat – reflektiert wird das kaum. Die zwei übrigen Freunde treffen eine Entscheidung: Ausbrechen. Flucht über die Ostsee. 50 km schwimmen. Endlich wird Hannahs Habitus zur scharfen Waffe, mit der ein Ausbruch möglich ist. 

Jenseits der blauen Grenze hat auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis 2024 drei Preise gewonnen. Schauspieler Willi Geitmann bekam für seine zerbrechlich-starke Darbietung den Preis als bester Nachwuchsschauspieler. In Gesprächen auf den Gängen der Kinos merkte man: Besucher:innen des Festivals wollen Filme, die Geschichten erzählen. Gewagtere Projekte, die auf dem Max Ophüls 2024 zu sehen waren, wie Immerhin die Kunst, die Kunst (2024), Draußen brennt’s (2024) und Wo keine Götter sind, walten Gespenster (2024) fielen (teils zurecht) durch. Jenseits der blauen Grenze liefert eine Geschichte und entführt sein Publikum für 102 Minuten in die DDR – ein symbolisches Gefängnis. Dabei bricht der Film selbst kaum aus seinem Genre-Gefängnis aus. Liebenswerte Figuren kämpfen gegen Oppressionen, die Buchverfilmung ist vor allem eins: sicher. Auch schwingt in der Darstellung von Tante-Emma-Laden und bürgerlichem Alltag eine latente verklärte Nostalgie.

Der Film erzählt wie die Ideologie eines Staates alles, was ihm nützt oder schadet, einverleibt. „Können wir nicht mal was nicht Politisches singen?“, murmelt Hannah bei Übungen des Gleichschritts und tönt „Freude schöner Götterfunken“ an – ironischerweise wohl das am meisten für propagandistische Zwecke verwendete Musikstück der Geschichte. In der Luft liegt Aufbruchstimmung; nur wenige Monate nach der Handlung des Films soll die Mauer fallen. Wenn die filmische Zukunft uns einholt, zeigt sich, ob ein Ausbruch jemals möglich war. So sind die letzten Augenblicke von Jenseits der blauen Grenze seine stärksten.

Gesehen auf dem Festival Max Ophüls Preis 2024.

Jenseits der blauen Grenze (2024)

Sommer 1989. Die ehrgeizige Hanna ist leidenschaftliche Schwimmerin und trainiert hart, um sich ihren Lebenstraum zu erfüllen: Siegerin bei Olympia zu werden. Doch ihr Leben verändert sich drastisch, als ihr bester Freund Andreas ins Visier der Staatsmacht gerät und für sich nur noch den Ausweg sieht, über die Ostsee in den Westen zu flüchten. Nach einigem Zögern beschließt Hanna, ihn zu begleiten. 50 Kilometer Wasser trennen sie von der Freiheit. Und nur eine dünne, verbindende Schnur um ihre Handgelenke retten sie vor der absoluten Einsamkeit. (Quelle: Max Ophüls Preis 2024)

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