Log Line

Über drei Jahre hat Ruth Beckermann für ihren Dokumentarfilm eine Wiener Grundschulklasse begleitet, in der kein einziges Kind Deutsch als Muttersprache spricht. Eine Lektion über den Wert von Sprache, Perspektiven und gutem Lehrpersonal.

Favoriten (2024)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Culture Clash im Klassenzimmer

Ich erinnere mich viel zu gut an diese Momente im Matheunterricht, wenn ich einfach nicht auf die Lösung einer Kopfrechenaufgabe kam. Wäre in diesem Moment noch eine Kamera auf mich gerichtet gewesen, wäre ich womöglich völlig überfordert in Tränen ausgebrochen. Dass es die kleine Melissa nicht tut, spricht für das besondere Verhältnis, dass Ruth Beckermann und ihr Team während der Arbeit an „Favoriten“ zu den Kindern aufgebaut haben müssen.

Favoriten, das ist ein Bezirk im Süden Wiens, der aufgrund seiner hohen ethnischen Durchmischung medial häufig als „Problembezirk“ herhalten muss. Dort begleitete Beckermann (Waldheims Walzer) an einer Volksschule von Herbst 2020 bis 2022 eine Klasse vom zweiten bis zum vierten Jahrgang, bis zur bevorstehenden Aufteilung auf die weiterführenden Schulformen also. Die Schülerinnen und Schüler stammen aus Syrien und der Ukraine, Mazedonien oder der Türkei, niemand spricht Deutsch als Muttersprache, aber abgesehen davon ist das Klassenzimmer Bühne der üblichen kindlichen Dramen: Probleme in Mathe wechseln sich ab mit vielen kleinen Erfolgen, Albernheiten, Meinungsverschiedenheiten, die manchmal in Geschubse ausarten.

Anders als etwa in Maria Speths Herr Bachmann und seine Klasse aus dem Wettbewerb der Berlinale 2021 geht Favoriten nicht von der Lehrperson als ordnendem Zentralgestirn aus — wenn einem auch die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut mit unkaputtbarem Engagement und Empathie den allergrößten Respekt für ihren Job im Allgemeinen und ihre individuelle Leistung im Speziellen abringt. Der Film funktioniert trotzdem eher als Gemeinschaftsprojekt. Die Kamera bleibt zumeist auf Augenhöhe der Kinder (die sie meist völlig zu vergessen scheinen), ihre Gesichter füllen in zahllosen Großaufnahmen die Leinwand zur Gänze aus, überlebensgroße Persönlichkeiten. Später bekommen die Kinder selbst Smartphones zum Filmen in die Hände, Beckermann gibt ihnen den Crashkurs: Querformat bitte, und wenn möglich ohne Finger auf der Linse. Von da an ist auch das von den Kindern selbst gefilmte Material in Favoriten verwoben: Sie filmen sich gegenseitig in ihrer Freizeit, nehmen kleine Tagebuchsequenzen auf oder stellen sich die ganz großen Fragen: Was möchtest du später werden? Willst du irgendwann heiraten? Die Antworten darauf sind so unterhaltsam wie verblüffend.

Dabei schreckt Beckermann auch vor den unangenehmen Momenten nicht zurück: Ratlosigkeit angesichts einer Rechenaufgabe eben, verfahrene Streitsituationen oder sensible Momente, in denen unterschiedliche Kulturen und Wertmaßstäbe aufeinanderprallen: Eigentlich dürften doch Christen nicht in einer Moschee beten, überlegt ein Junge einmal, und wieder ist es an Frau Idiskut, mit gezielten Gegenfragen Denkprozesse anzuschieben: „Wieso entscheidest du das? Bist du der Chef der Moschee?“

Das ist bei Weitem nicht der einzige Moment, in dem sich trotz des Fokus auf die Kinder der Blick in Favoriten weitet für ihre Lebensrealität außerhalb der Schule: Bei der Frage nach den Berufen der Eltern sind Bauarbeiter und Krankenschwestern hoch im Kurs, die essentiellen Berufe, die Österreicher anscheinend genauso ungern ergreifen wie Deutsche. Als Russland die Ukraine überfällt, wird in der Klasse über den Krieg gesprochen, und einige Kinder nutzen die Gelegenheit auch, an die Lage in Syrien zu erinnern. Eklatant ist zudem die Situation an den Schulen selbst: Als mitten im Semester eine Quereinsteigerin zur Klasse stößt, die noch kein einziges Wort Deutsch spricht, bekommt die Lehrerin keine Assistenz zur Seite gestellt, muss den Sprachkurs zusätzlich zum regulären Unterricht stemmen. SozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen sind ebenfalls Mangelware — ganz abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob es nicht ohnehin sinnvoller wäre, in den Schulklassen Deutsch-Muttersprachler und Nicht-Muttersprachler systematisch zu durchmischen.

Die schiere Menge an ausgelassenen ebenso wie nachdenklich stimmenden Momenten im mit zwei Stunden für eine solche Langzeitstudie vergleichbar kurz geratenen Favoriten, die Menge an implizierten Problemen und drängenden Fragen über das Schulwesen als auch über unser Zusammenleben als westeuropäisch geprägte Gesellschaft macht es beinahe etwas schwierig, den Film als kohärentes, von der Vision seiner Regisseurin durchgeformtes Werk zu betrachten. Allerdings muss das auch gar nicht der Anspruch sein. Favoriten funktioniert genauso gut als Füllhorn mit Denkanstößen, von dem sich ein durchschnittliches Festival-Publikum ebenso inspirieren lassen sollte wie die Politik. Und jede Menge Spaß macht er dabei auch noch.

Favoriten (2024)

Mehr als 60 Prozent aller Kinder in Wiener Volksschulen haben nicht Deutsch als Erstsprache.. Gleichzeitig herrscht akuter Mangel an Lehrerinnen und Betreuern. Widrige Bedingungen sind der Ausgangspunkt für Ruth Beckermanns „Favoriten“, in dem die österreichische Filmemacherin (Waldheims Walzer, Mutzenbacher) über drei Jahre hinweg eine Wiener Volksschulklasse begleitet. Entstanden ist dabei ein erstaunlich heiteres Porträt einer ungewöhnlichen Gemeinschaft. Ein Film über das Lehren und das Lernen und die oft sehr überraschenden Erfahrungen irgendwo dazwischen. (Quelle: ruthbeckermann.com)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen