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Sie halten das Leben fest: „Heaven Can Wait“ zeigt einige Mitglieder des gleichnamigen Chors für Senior*innen in Hamburg. Ein auf authentische Weise emotional anrührender Dokumentarfilm.

Heaven can wait - Wir leben jetzt (2023)

Eine Filmkritik von Anke Zeitz

Das Jetzt feiern

Unter 70 braucht man gar nicht erst vorzusingen! Der Chor „Heaven can wait“ aus Hamburg hat es sich zum Ziel gesetzt, das Leben jenseits des Ruhestands mit der ansteckenden Kraft der Musik zu feiern. Wilhelm, Wolfgang, Inge, Monika, Joanne und Volli singen aus vollem Halse und mit Inbrunst Lieder von Sarah Connor, Frida Gold, Mark Forster und Deichkind. Dokumentarfilmer Sven Halfar hat sie dabei über mehrere Monate begleitet. Durch die Lust am gemeinsamen Singen erhalten die Lieder zusätzliche Tiefe und Bedeutung und hallen noch nach, wenn der letzte Ton Films verklungen ist.

Filme über das Älterwerden sind oft auch Filme übers Abschiednehmen und über das „Endlich-Sein“. Ganz aktuell gibt es mit Für immer und Blauer Himmel Weiße Wolken auch zwei Dokumentarfilme, die sich mit dem letzten Kapitel des Lebens beschäftigen und dabei eher das Erinnern an etwas Vergangenes thematisieren als das Leben im Hier und Jetzt. Genau da macht Sven Halfars Heaven Can Wait, der gerade den Publikumspreis bei der Filmkunstmesse in Leipzig erhalten hat, den entscheidenden Unterschied.

Die Protagonisten und Protagonistinnen leben und feiern das „Jetzt“. Dass sie es mit Gesang tun, trägt natürlich zum Wohlfühlfaktor des Films bei, wenn auch nicht jeder Ton oder jede Textstelle sitzt. Das sei gar nicht so wichtig, hebt der charismatisch-mitreißende Chorleiter Jan-Christof bei jeder Probe hervor. Denn: „Es geht um den Ausdruck, nicht um den Text!“ Vielmehr als um Perfektion geht es um das Erzählen von Geschichten, von Träumen, von Sehnsüchten. Jedes der Chormitglieder hat ein langes Leben geführt. Die Kamera (Julia Lohmann und Matthias Wittkuhn) fängt dieses Leben auf verschiedenste Weisen ein, ohne dass sich zu viele gesprochene Worte in den Vordergrund drängen. Sie fängt es ein durch lange Blicke in die Kamera, die es den Zuschauenden erlauben, die mit Falten durchzogenen, markanten Gesichter zu studieren, durch den Blick in die Wohnungen, in denen sich Erinnerungen und Krimskrams stapeln, durch die nahen und halbnahen Einstellungen während der Performances, die Jan-Christofs Aussage untermauern.

Jeder Protagonist, jede Protagonistin gibt den so unterschiedlichen Liedern, die gesungen werden – von Frida Gold über Mark Forster bis hin zu Jan Delay und Deichkind – eine warmherzige Tiefe mit. Man spürt Liebe, Bedauern, Traurigkeit und Fröhlichkeit, manchmal auch Unsicherheit – und ganz oft Stolz. Ein Beispiel hierfür ist Joanne, die von Anfang an dabei ist. Als ausgebildete Opernsängerin ist sie prädestiniert für die große Bühne, und in der Tat strahlt sie vor Verve und der puren Freude am Auftritt. Dass der Erfolg keine Konstante in ihrem Leben war, scheint den Film über immer wieder durch. Der Chor war eine „Rettung“, ein „Hoffnungsschimmer“. So auch bei Ingrid, die ein Leben in erwartbarer, aber sie in keiner Weise erfüllender Ordnung führte. Nun, im Alter, will Ingrid ihre Träume leben. Der Chor, so scheint es, hilft ihr dabei.

Sven Halfar, der 2017 mit Silly – Frei von Angst ein großartiges Porträt der bekannten deutschen Band zeichnete, verzichtet in der Inszenierung trotz eines Hintergrund-Scores, den es nicht zwingend gebraucht hätte, und der ein oder anderen Drohnenaufnahme zu viel, auf Tränendrüsen-Momente. Die emotionale Rührung, die der Film auslöst, wirkt echt, was natürlich auch – immer ein Glücksfall für einen Dokumentarfilm – an den Menschen liegt, die porträtiert werden. Dabei ignoriert Heaven Can Wait auch nicht die unumstößlichen Aspekte des Alterns: So wird sich Monika nach einem Unfall bewusst, dass ihre Selbständigkeit, auf die sie immer stolz war, ihr nun gar nichts mehr nützt. Und auch andere Chormitglieder erleben diesen Abschnitt ganz reflektiert als Ende ihrer Reise. Einer von ihnen wird seine Lebensreise noch während der Dreharbeiten des Films beenden.

Auch in diesem Kapitel gelingt dem Film eine sensibel austarierte Balance zwischen Empathie und filmischer Distanz. Der Tod ist ein Teil der Gemeinschaft, aber schwebt nie wie ein Damoklesschwert über den Sequenzen, ist nie so groß wie das Ja zum Leben. Das Herzstück des Films sind sicherlich die Auftritte des Chors. Und wenn dann alle zusammen „Wovon sollen wir träumen“ von Frida Gold und „Das Leben“ von Udo Lindenberg interpretieren, mit all den Lebenserfahrungen im Hintergrund, dann überträgt sich etwas auf das Publikum, was der Chorleiter mit knappen Worten auf den Punkt bringt – und was den Film zu einem wunderschönen, verbindenden Kinoerlebnis macht: „Wenn ihr wisst, warum ihr etwas singt, dann ergreift mich das.“

Heaven can wait - Wir leben jetzt (2023)

„Wir sind zusammen groß…Komm lass ‚n bisschen noch zusammenbleiben. Nehmt die Flossen hoch. Und die Tassen auch. Wir feiern heute bis zum Morgengrauen.“ Wenn der Song der Fanta 4 von über 70-Jährigen performt wird, bekommt er eine ungeahnte Tiefe. Auch Songs von Lindenberg und Nirvana stehen auf dem Programm des „Heaven Can Wait“-Chores, der ganze Theater füllt. Der Chorleiter ist ein charmanter, witziger und gefühlvoller Mensch. Er schafft es, der Ü70-Truppe – die meisten stammen aus der Kriegsgeneration – ungeahnte Emotionen zu entlocken. Der Film stellt uns einige der Chormitglieder exemplarisch vor und erzählt von den Höhen und Tiefen, die sie gemeinsam durchlebt haben, bis der Chor zu dem geworden ist, was er heute ist: ein zweites Zuhause. (Quelle: DOK.fest München 2023 / Ina Borrmann)

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Meinungen

B.I.Gebel · 15.10.2023

Dieser Film hat mich sehr berührt, er macht nachdenklich, gestern gesehen und heute wandern meine Gedanken immer noch um den Film. Ich möchte ihn unbedingt nochmal sehen. Singe selber im „Experimental Chor „ alte Stimmen“ in Köln.

Diet Simon, Bass im Film · 09.11.2023

Er hat in Leipzig und in Hamburg den jeweiligen Publikumspreis gewommen.