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Der Süden Italiens ist ein Tummelplatz für Klischees: Armut, Kriminalität, aber pralles Leben. Regisseur Jonas Carpignano schaut sich die Region genauer an, in einer berührenden Sozial- und Familienstudie über eine 15-Jährige, die zu früh erwachsen werden muss.

Chiara (2021)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Ein etwas anderer Mafiafilm

„Sie nennen es Mafia, wir nennen es Überleben.“ Der das sagt, ist ein Insider. Einer, der aus der Hafenstadt Gioia Tauro kommt, ganz unten in Kalabrien, an der Stiefelspitze Italiens. Schaut man den Ort bei Wikipedia nach, liest man über den Containerumschlagplatz, dass hier 80 Prozent des Kokains ankommen, die von Kolumbien aus verschifft werden, um Kunden in ganz Europa zu versorgen. Regisseur Jonas Carpignano muss nicht erst im Internet nachschauen, um zu wissen, was in Gioia Tauro los ist. Der Italo-Amerikaner hat hier gelebt und drei Filme gedreht. Jede dieser Sozialstudien beschäftigt sich mit einem speziellen Aspekt des bitterarmen italienischen Südens. „Chiara“ ist der Abschluss der Trilogie. Sie folgt auf „Mediterranea“ (2015) und „A Ciambra“ (2017).

Ein feucht-fröhliches Familienfest. Alle sind gekommen, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Großväter und Großmütter. Sie haben sich herausgeputzt, um Giulias (Grecia Rotolo) 18. Geburtstag zu feiern. Sie ist die ältere Schwester der 15-jährigen Chiara (Swamy Rotolo). Vater Claudio (Claudio Rotolo) soll einen Toast auf seine Älteste ausbringen. Aber er ziert sich. Redenschwingen ist nicht sein Ding. Stattdessen sagt er Giulia leise und vertraulich, was vor versammelter Mannschaft nicht über seine Lippen kommt: „Dass ich stolz auf dich bin und dass du mein Leben bist, das weißt du doch“. Tränen kullern über sein Gesicht, für einen Moment schweigt die Feierrunde betreten. Später wird Claudio mit Chiara tanzen, der zweitgeborenen von drei Töchtern – auch das ein poetischer Moment in der ansonsten dokumentarisch angehauchten Inszenierung.

Regisseur Jonas Carpignano, der auch das Drehbuch geschrieben hat, nimmt sich viel Zeit, um Chiara und ihre Familie vorzustellen: das Chaos unter den drei Mädchen, aber vor allem die Zärtlichkeit, mit der sich die drei nach ausgestandenem Streit aufs Sofa kuscheln und den liebevollen Papa in die Mitte nehmen. Für Chiara, aus deren Perspektive die oft wackelige Handkamera (Tim Curtin) das Publikum ins Geschehen hineinzieht, schlägt die Wahrheit über ihren Vater wie ein Blitz ins behütete Leben ein. Plötzlich zünden Unbekannte Claudios Auto an. Der Vater verschwindet ohne ein Wort der Erklärung, nur um in den Nachrichten auf Chiaras Handy wieder aufzutauchen. Gegen den Mann liegt ein Haftbefehl vor, wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Die Mutter und die ältere Schwester wissen offensichtlich Bescheid, verraten Chiara aber nichts. „Dafür bist du zu jung“. Ein gehöriger Irrtum: Chiara wird die Wahrheit auf eigene Faust ans Licht bringen.

Mit klassischen Mafiafilmen hat das nichts zu tun. Niemand wird ermordet, es gibt keine Rachefeldzüge verfeindeter Clans. Nicht einmal ein Schuss fällt. Jonas Carpignano pflügt den sozialen und kulturellen Nährboden durch, auf dem die Blüten des organisierten Verbrechens wachsen. Ihn interessieren die Lebensbedingungen in Gioia Tauro, die im Grunde Sterbensbedingungen sind. Aber auch das wertet der Film nicht. Chiara klagt nicht an, entschuldigt und beschönigt nichts. Die Machart hält sich an das Prinzip, das Chiaras Onkel Antonio (Antonio Rotolo) bei einer gemeinsamen Autofahrt dem Renaissancemaler Raffael zuschreibt: Der habe den Herzog von Urbino so gemalt, wie er war – mit einer krummen Nase, ohne Heldenverehrung. Trotzdem gerät der Realismus von Chiaras Suche nach einem inneren moralischen Kompass nicht so hoffnungslos wie etwa Matteo Garrones Gomorrha (2008).

Chiara ist diejenige, die das alles erkundet und die doch das innige Band zum Vater nie zerschneiden wird. Auf ihrem Gesicht, in ihren großen braunen Augen spielt sich die emotionale Reise ins Herz der Realität ab. Laiendarstellerin Swamy Rotolo ist die Entdeckung des Films. Ihre unbeugsame Energie hat den Regisseur schon fasziniert, als sie erst zehn war und er sie kennenlernte. Er schrieb daraufhin das Drehbuch für sie um und gewann die ganze Familie Rotolo dafür, bei der außergewöhnlichen Verschmelzung zwischen Realität und Fiktion mitzuhelfen. Die große Wahrhaftigkeit hat auch mit den Besonderheiten des Drehs zu tun. Swamy Rotolo bekam das Drehbuch nie zu Gesicht und erlebte dieselben Überraschungen, die auch das Publikum fesseln, direkt vor der Kamera. Die Vater-Tochter-Beziehung ist echt. Und deshalb so berührend.

Chiara (2021)

In der Familie Guerrasio herrscht ein liebevoller Umgang zwischen Chiara, ihren Schwestern und den Eltern. Zum 18. Geburtstag der ältesten Schwester feiert die Familie mit Verwandten und Freunden ein rauschendes Fest. Doch als Chiara beobachtet, wie ihr Vater Claudio die Party mit ihren Cousins überstürzt in einem schwarzen Auto verlässt, wird die 15-Jährige misstrauisch. Als er am nächsten Morgen immer noch nicht zu Hause ist, beginnt die aufgeweckte Teenagerin selbst Nachforschungen anzustellen. Ihre Suche führt sie in den Untergrund der kalabresischen Mafia und fordert eine folgenreiche Entscheidung für ihre eigene Zukunft. (Quelle: Zurich Film Festival 2021)

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