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Valérie Lemerciers Film über eine weltberühmte Sängerin lehnt sich an einen echten Star an. Aus Céline Dion wird Aline Dieu. Nicht die letzte Freiheit, die sich die Regisseurin und Drehbuchautorin nimmt. Großer Gott, was für eine Show!

Aline - The Voice of Love (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Mon Dieu!

Eigentlich hatte die Französin Valérie Lemercier in einer Radiosendung nur gescherzt, als sie ein Biopic über Kanadas berühmtesten Gesangsexport in Aussicht stellte. Dummerweise hörte ihre Produktionsdesignerin zu und war begeistert. Das Filmprojekt wurde konkreter und im Verlauf des Drehbuchprozesses aus der echten Céline Dion die fiktive Aline Dieu, was vieles vereinfachte. Dadurch besaßen Lemercier und ihre Co-Autorin Brigitte Buc die Freiheit, die Realität auszuschmücken und zu einem eigenwilligen Mix aus Albernheit und Ernst zu formen.

Der Grundton ihres Films ist heiter und ausgelassen. Als Alines Vater Anglomard (Roc Lafortune) die Liebe seines Lebens ehelicht, erklärt er ihr, dass er keine Kinder wolle. Die frisch angetraute Sylvette (Danielle Fichaud) runzelt kurz die Stirn, und eine amüsante Montagesequenz und dreizehn Kinder später kommt Nesthäkchen Aline zur Welt. Da sind Sylvette und Anglomard bereits Großeltern, was ihre Liebe zur Nachzüglerin nicht mindert. Ganz im Gegenteil: Sylvette beschützt Aline mit Zähnen und Klauen und kann selbst nur schwer loslassen, als ihre Jüngste längst erwachsen ist.

Schon dieser Auftakt im Québec der 1960er- und 1970er-Jahre nimmt sich die erste große Freiheit, die nachhaltig irritiert. Valérie Lemercier, Jahrgang 1964 und vier Jahre älter als Céline Dion, spielt Aline Dieu in allen Lebensphasen. Damit muss sich das Kinopublikum erst einmal arrangieren. Wenn Familie Dieu an den Wochenenden wie eine frankokanadische Version der Kelly Family bei Dorffesten aufspielt, dann steht die kleine Aline am Bühnenrand und lugt mit Lemerciers Gesichtszügen nach oben. Später drückt sie in überdimensioniertem Mobiliar die Schulbank oder singt auf der Hochzeit ihrer älteren Schwester, den Körper in der Postproduktion auf die Größe einer Fünfjährigen geschrumpft.

Das sieht ausgesprochen ungelenk und so unnatürlich aus, dass es einige Lacher verbucht, die garantiert nicht eingeplant waren. Wer sich mit dieser künstlerisch eigenwilligen Entscheidung anfreunden kann, wird jedoch seine wahre Freude mit diesem Film haben. Lemercier hat sichtlich Spaß daran, die Schrullen einer Großfamilie auf den Arm zu nehmen, ohne ihre Figuren dabei zu verraten. Sie stammt selbst aus einer. Lemerciers Eltern haben je acht Geschwister, wodurch bei Familienfeiern gut und gerne 150 Verwandte zusammenkommen. Ganz so voll wird es in ihrem Film zwar nicht. Doch die Küche der Dieus platzt mehrmals aus allen Nähten und ist immer für Situationskomik gut. 

Dann wird sich ein Jux daraus gemacht, wie lustig das Wörtchen Vatikan, wo Alines erstes Studioalbum rauf und runter gespielt wird, mit frankokanadischem Akzent klingt. Oder Aline steigt am Tag ihrer Hochzeit durchs Küchenfenster, weil ihr Kleid so tailliert ist, dass es nicht durch die Tür passt. Zu diesem Zeitpunkt ist aus dem kleinen Mädchen, das von ihrer Mutter aus Ermangelung eines Kinderbettchens in eine Schublade gebettet wurde, längst ein Star geworden. Und der Film schlägt zunehmend ernstere Töne an. Die Karriere nimmt nun richtig Fahrt auf und verlangt ihren Tribut. Und die Ehe mit ihrem mehr als 20 Jahre älteren Manager Guy-Claude Kamar (Sylvain Marcel) wird erst von einem lange unerfüllten Kinderwunsch, später von Krankheit und Tod überschattet.

Der Film und seine Protagonistin verlieren jedoch nie ihren Humor. Einmal etwa verläuft sich Aline während eines Telefonats mit ihrer Mutter in ihrer neuen Villa. Hier endet der Gag allerdings nicht. Denn der Familienmensch Aline hat auch ihren Eltern und all ihren Geschwistern Villen gekauft, in denen diese den Überblick verlieren. Wie die echte Céline Dion, die stets zu Scherzen aufgelegt ist und wunderbar über sich selbst lachen kann, trägt auch Aline ihr Herz auf der Zunge. Vom Herzinfarkt ihres Mannes berichtet sie in einer Fernsehsendung frank und frei und in ihrer eigenen urkomischen Art. Wer in dieser Szene nicht lauthals loslacht und zugleich eine Träne verdrückt, hat weder Herz noch Humor. 

Aline scheut sich nicht davor, Gefühle zu zeigen – ob im Fernsehstudio oder auf der Bühne, wenn ein Schicksalsschlag sie unvorbereitet trifft. Obwohl auch sie hochprofessionell agiert, gibt sie der knallhart durchgetakteten Unterhaltungsindustrie ein menschliches Gesicht. Für diese Frau geht die Show nicht immer weiter. 

Céline, Aline – die Grenzen sind fließend, was dem Film zum Vorteil gerät. Einerseits schreitet die Handlung alle wichtigen Stationen der berühmten Sängerin ab und kehrt dabei stets ihre Bodenständigkeit und ihren Familiensinn heraus. Bei der Oscarverleihung 1998, bei der sie den Titanic-Titelsong „My Heart Will Go On“ performt, könnte ihr nichts unwichtiger sein als die Preisverleihung. Dass ihre Eltern vor Ort sind, bedeutet ihr hingegen die Welt. Den Glücksbringer, den ihr Vater ihr zum Karrierebeginn geschenkt hat, trägt sie immer noch bei sich. Stilecht in ihren Stilettos – ihr einziges Laster. Ihr Schrank birgt Tausende Paar. Andererseits gleicht das Publikum nicht ständig kritisch ab, ob die Fakten stimmen, die Bewegungen und Gesten sitzen und die Hauptdarstellerin der Berühmtheit ähnlich genug sieht, weil es hier eben nicht Céline, sondern Aline zusieht.

Valérie Lemercier, die ihre Karriere am Theater begann und später auch als Stand-up-Comedienne unterwegs war, kann sich mit ihrer Hauptfigur identifizieren. „Mir waren lange Touren vertraut, die Mahlzeiten, die man vor einem Spiegel herunterschlingt, der Druck, eine Halle füllen zu müssen, jeden Abend seine Stimme zu haben und einen Körper, der einen nicht im Stich lässt“, hat sie in einem Interview gesagt. Aber auch das Publikum kann mühelos andocken, weil es hier keinen abgehobenen Star vorgesetzt bekommt, sondern eine Frau aus einfachen Verhältnissen, der der Ruhm nie zu Kopf steigt. Was sie freilich nicht vor Neidern schützt.

Über Céline Dions Ehe mit René Angélil (1942-2016) wurde in der Öffentlichkeit viel Häme und Spott ausgeschüttet. Im Film zeigt Lemercier, wie viel Zuneigung und Zärtlichkeit in der Beziehung zwischen Aline und Guy-Claude steckt. Hier hat kein alter Bock ein junges Ding übervorteilt. Hier begegnen sich zwei eigenwillige Persönlichkeiten auf Augenhöhe. Ihre Ehe ist mehr als nur Liebe oder nur eine Geschäftsbeziehung. Aline und Guy-Claude sind auch Komplizen und beste Freunde.

Valérie Lemerciers Film glückt das kleine Kunststück, sich selbst, seine Protagonistin und die reale Person dahinter nicht zu ernst zu nehmen und doch stets respektvoll von den ernsten Dingen des Lebens zu erzählen. Es ist ein Film über einen Menschen, der so tief in seiner Familie verwurzelt ist, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, abzuheben. Und es ist eine Ode ans Familienleben mit allen Absonderlichkeiten, die dazugehören.

Das hat nicht allen gefallen. Céline Dions Geschwister Michel und Claudette übten scharfe Kritik, weil sie das Image der Familie beschädigt sehen. Ob Céline Dion den Film gesehen hat, ist nicht bekannt. Bislang hat sie sich nicht dazu geäußert. Wenn sie aber nur ansatzweise so viel Humor wie Aline besitzt, dann wird sie ihn lieben. 

In einer der schönsten Szenen des Films streift Aline frühmorgens durch Las Vegas. Zum allerersten Mal nach Jahren der Engagements in dieser Glitzerstadt. Und kein Mensch erkennt sie, so unscheinbar kommt sie daher. Ein Weltstar, der das einfache Mädchen aus der Provinz geblieben ist. Eine Künstlerin, die auch ohne Glitzer funkelt.

Aline - The Voice of Love (2020)

Dass die kleine Aline mit ihrer wunderbaren Stimme einmal eine berühmte Sängerin werden wird, davon sind ihre Eltern und die 13 Geschwister überzeugt. Wild entschlossen schickt ihre Mutter eine Kassette an den berühmten Musikproduzenten Guy-Claude Kamar. Auch er ist hingerissen von Aline und will das Mädchen zu seinem größten Star machen. (Quelle: Weltkino)

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