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Die französische Regisseurin Mélanie Auffret erzählt von einer aufopferungsvollen Lehrerin und ihrem aufbrausenden, längst ins Rentenalter gekommenen Schüler. Ihre Komödie greift dringliche gesellschaftliche Probleme wie Analphabetismus und Landflucht auf, ohne die gute Laune zu verlieren.

Es sind die kleinen Dinge (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Liebenswerter Hitzkopf

Kaum jemand mag sich vorstellen, wie es sich in unserer von Schriftzeichen nur so wimmelnden Zeit anfühlt, nicht lesen und schreiben zu können. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, selbst in ländlichen Gegenden wie dem bretonischen Dorf Kerguen, einer Gemeinde von 400 Einwohnern. Hier staunt die Bürgermeisterin und Lehrerin Alice (Julia Piaton) nicht schlecht, als der 65-jährige Choleriker Émile (Michel Blanc) in ihre jahrgangsübergreifende Dorfschulklasse stapft. Er setzt sich genau in die Bank, die er als Kind letztmals gedrückt hatte, damals allerdings mit mäßigem Erfolg. Die restlichen zehn Schülerinnen und Schüler sind aus dem Häuschen, nicht nur wegen der willkommenen Überraschung, sondern auch, weil Émile kein Blatt vor den Mund nimmt und seinen Sitznachbarn sogleich als „Klugscheißer“ tituliert. Aber was noch schlimmer ist: Die Schule soll geschlossen werden, wie schon die Bistros, die Läden und zuletzt sogar die Bäckerei. Landflucht nennt man das nicht nur in Frankreich – ein Problem, das Regisseurin Mélanie Auffret zu einer klugen Komödie voller lebensechter Charakterköpfe inspiriert hat.

Wie schlägt man sich durchs Leben, wenn sich Ortsnamen als ebenso verwirrende Mysterien vor einem auftürmen wie amtliche Formulare? Die Filmfigur Émile ist ein gut recherchiertes Beispiel für erfolgreiche Vermeidungsstrategien. Sein Leben lang hat der pensionierte Fliesenleger mit seinem Bruder zusammengelebt, der seine komplette Korrespondenz erledigte und mit ihm den kleinen örtlichen Radius absteckte, in dem sich Émile mittels Eselsbrücken zurechtfand. Aber vor sechs Monaten ist der Bruder gestorben. Nun ist es nur eine Frage der Zeit, bis Émiles Tricks auffliegen, selbst wenn er sich bislang äußerst robust und rücksichtslos nach dem Motto „Delegieren oder laut werden“ durchs Leben schlug.

Lebensnah ist nicht nur Émile, sondern das ganze Personal in Mélanie Auffrets zweitem Film nach ihrem Debüt Roxane (2019). Die in der Bretagne geborene Filmemacherin konnte aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen schöpfen. Sie hat Verwandte in kleinen Dörfern, sie verbachte Zeit mit der Bürgermeisterin eines 500-Seelen-Ortes sowie mit der Lehrerin in Le Juch, wo auch gedreht wurde. Zudem konnte Hauptdarstellerin Julia Piaton (Monsieur Claude und seine Töchter, 2014) einem ihrer Cousins über die Schulter schauen, der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in der Normandie geworden war. So entstanden in der Drehbucharbeit mit Co-Autor Michaël Souhaité komplexe Figuren, geprägt durch Widersprüche und die ganze Konflikthaftigkeit des heutigen Landlebens.

Natürlich ist es lustig, wenn das gestandene Mannsbild Émile mit einem Schulranzen durchs Dorf läuft oder auf den „Nachdenkstuhl“ verbannt wird. Der Film lässt sich solche Gags, die sich dank der Ausgangsidee quasi wie von selbst schreiben, keineswegs entgehen. Aber er reitet sie nicht zu Tode. Überhaupt kommt es der Komödie niemals in den Sinn, die ohnehin‘ schon gebeutelten Bewohner des kleinen Dorfes zum Gespött zu machen. Ganz im Gegenteil. Die Kamera betrachtet sie mit respektvoller Zärtlichkeit, immer auf der Suche nach all den Potenzialen, die ihnen und ihrem Gemeinschaftsleben über die letzten Jahrzehnte abhandengekommen sind: Nachbarschaftshilfe, Geselligkeit, die Kneipe als zweites Wohnzimmer.

Unter der tristen, mit charmantem Augenzwinkern betrachteten Oberfläche schlummern übrigens nicht nur im Film ungeahnte Möglichkeiten. Durch die von Medienecho begleiteten Dreharbeiten wurde man auf das Gebäude aufmerksam, das im Film das Rathaus darstellt und 25 Jahre leer stand. Heute ist es wieder eine Bar.

Es sind die kleinen Dinge erfindet die Komödie nicht neu, auch die typisch französische nicht. Aber dank seines Einfallsreichtums umkurvt der schwungvoll geschnittene Film von Mélanie Auffret sämtliche Klischeefallen, die in den Straßen von Kerguen lauern. Der Film führt sein Publikum auf falsche Fährten und hebt auch seine unermüdlich sich aufopfernde weibliche Heldin nicht auf den Sockel der Nationalheiligen. Stattdessen lässt er sie über etwas nachdenken, was man früher das „Helfersyndrom“ nannte. Vor allem aber ist es Julia Piatons Pingpongspiel mit Michel Blanc in der Rolle des kratzbürstigen Zukurzgekommenen, das die Komödie über humoristische Einheitskost hinaushebt. Den trocken unterspielten Witz des 72-Jährigen, der mit Regiegrößen wie Bertrand Tavernier, Roman Polanski, Bertrand Blier (Abendanzug, 1986) und Patrice Leconte (Die Verlobung des Monsieur Hire, 1989) arbeitete, hat man im deutschen Kino in den vergangenen Jahren vermisst.

Es sind die kleinen Dinge (2023)

Mit ihren Verpflichtungen als Lehrerin und Bürgermeisterin einer 400-Seelen-Gemeinde im Herzen der Bretagne ist Alice voll ausgelastet. Als ausgerechnet der eigenwillige Émile beschließt, mit 65 Jahren noch lesen und schreiben zu lernen, und sich in Alices Klasse setzt, ist sie mehr als gefordert. Doch es kommt noch schlimmer: Mit einem Mal steht ihre Schule vor der Schließung und Alice sieht das gesamte Dorfleben bedroht. Jetzt ist guter Rat teuer. Doch schnell wird klar, was sich alles bewegen lässt, wenn Alice und die Dorfbewohner gemeinsam an einem Strang ziehen – und ein paar überaus pfiffige Einfälle haben…

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