Wien vor der Nacht

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Welt von Gestern

„J’adore le passé „- „Ich bewundere die Vergangenheit“ – Mit diesen Worten aus der Eingangsszene von Max Ophüls‘ 1950 gedrehtem Film Der Reigen nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Arthur Schnitzler nimmt Robert Bobers biographische Spurensuche ihren Auftakt. Der Schriftsteller und Filmemacher sitzt in einem Kino und schaut zu, auf welche elegant-tiefsinnige Weise uns Ophüls mittels seines eloquenten Conférenciers (Adolf Wohlbrück) in die Handlung einführt, den Bogen spannt von dem Jetzt und Ort des Betrachters zu dem Dort, jenem imaginierten (auch mittels einer Kamera, die unvermutet auf der Theaterbühne zu sehen ist) Ort des Damals, auf dem sich der Reigen entfalten wird. Und mit den letzten Worten des Erzählers aus Ophüls‘ Meisterwerk wechselt Wien vor der Nacht die Szenerie – hinaus aus dem Kino, hinein in das Arbeitszimmer Bobers, aus dessen Laptop dieser Satz noch einmal nachhallt.
Es liegt etwas ebenso Verschmitztes wie Sehnsüchtig-Melancholisches in diesem Auftakt – und vor allem letzterem begegnet der Zuschauer in den kommenden 70 Minuten häufiger. Bober erkundet in Wien vor der Nacht die Geschichte seines Urgroßvaters Wolf Leib Fraenkel, der 1853 geboren wurde und zwei Jahre vor Bobers Geburt 1931 verstarb und mit dem er sich auf seltsame Weise verbunden fühlt. Mit diesem Mann begibt er sich in das Wien zu der Zeit um 1900, als die Stadt nicht nur die unumstrittene Metropole der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, sondern auch eines der Zentren des kulturellen und des jüdischen Lebens war. Fraenkel stammte aus dem polnischen Przemysl an der damaligen Ostgrenze des Kaiserreiches und hatte eigentlich in die USA auswandern wollen. Doch eine auf Ellis Island festgestellte Krankheit führte zur Abweisung, woraufhin der Mann nach Europa zurückkehrte und sich in der jüdisch geprägten Wiener Leopoldstadt niederließ, wo er als Blechschmied für vorwiegend religiöse Gerätschaften tätig war und ein frommes Leben führte.


Viel ist Robert Bober allerdings nicht geblieben an Erinnerungsstücken und Versicherungen der gelebten Existenz: Zwei Kerzenhalter aus der Hand Fraenkels, wenige Bilder, ein überwucherter Grabstein, einige Geschichten aus zweiter Hand – mehr nicht. Was also bleibt, ist die Macht der Imagination, die Sehnsucht danach, diesen Mann gekannt zu haben, der das Glück hatte, die Nacht des Holocaust (so ist der Filmtitel zu verstehen) nicht mehr miterleben zu müssen. Seinem Urenkel blieb dies leider nicht erspart, auch wenn seine Familie die Schrecken der kommenden Jahre im französischen Exil überlebte.


Weil es Bober an belegbarem Material aus der Hand des Urgroßvaters mangelt und aus Liebe zur Literatur, zumal den Werken aus jener vergangenen Zeit, zieht der Filmemacher die Schriften von Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Peter Altenberg, Joseph Roth und Stefan Zweig heran. Vor allem die Autobiographie von letzterem, das im Exil geschriebene Buch Die Welt von Gestern mit seinen sehnsüchtigen Erinnerungen an das alte, das unwiederbringlich verlorene Europa, das der Barbarei anheimgefallen war, bildet dabei so etwas wie das heimliche Motto dieses Films. Er ist letzten Endes weniger eine Biographie, sondern vielmehr ein essayistisches, umherschweifendes, flanierendes Herantasten an die eigene Geschichte, die eigene Abstammung und das kulturelle Erbe einer untergegangenen Epoche, ein ebenso literarischer wie persönlicher Stadtspaziergang, eine Liebesbekundung wie Ehrerbietung an den ihm unbekannten Vorfahren – und letztendlich auch ein Bilderreigen wie Ophüls’ gleichwohl viel frivolerer Bilderbogen: „Und wenn ich nach Wien zurückkehrte, dann nicht nur, um dort das Grab meines Urgroßvaters zu finden, sondern auch weil die Vergangenheit – genau jene Vergangenheit – unserer Erinnerung bedarf und die Toten unserer Treue.“


Wien vor der Nacht

„J’adore le passé „- „Ich bewundere die Vergangenheit“ – Mit diesen Worten aus der Eingangsszene von Max Ophüls‘ 1950 gedrehtem Film „Der Reigen“ nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Arthur Schnitzler nimmt Robert Bobers biographische Spurensuche ihren Auftakt. Der Schriftsteller und Filmemacher sitzt in einem Kino und schaut zu, auf welche elegant-tiefsinnige Weise uns Ophüls mittels seines eloquenten Conférenciers (Adolf Wohlbrück) in die Handlung einführt.
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