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Die Titelfigur dieses in einem türkischen Dorf angesiedelten Dramas ist doppelt benachteiligt. Weil sie stumm ist, trifft sie die Ächtung einer Gemeinschaft, die von jungen Frauen Anpassung und Funktionieren erwartet. Aber Sibel beherrscht die traditionelle Pfeifsprache und gibt sich nicht auf.

Sibel (2018)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Die Frau, die den Wolf jagt

Inmitten der Berge der nordwestlichen Türkei liegt das Dorf Kuşköy, dessen Bewohner noch die traditionelle Pfeifsprache beherrschen. Für die 25-jährige Sibel (Damla Sönmenz) ist sie die einzige Möglichkeit, sich zu verständigen. Seit dem fünften Lebensjahr kann sie nicht mehr sprechen. Die junge Frau, die zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Fatma (Elit Iscan) bei ihrem Vater, dem Bürgermeister (Emin Gürsoy), lebt, wird von den Dorfbewohnern wegen ihrer Behinderung gemieden und verachtet.

Sibel läuft gerne mit dem Gewehr auf dem Rücken in die Wälder. Sie ist auf der Suche nach dem Wolf, vor dem sich die Leute fürchten. Zumindest warnt die alte, verrückte Narin (Meral Çetinkaya), die allein in einem abgelegenen Häuschen über dem Dorf wohnt und seit ewigen Zeiten auf die Rückkehr ihres Verlobten wartet, Sibel vor dem Wolf. Wenn sie ihn erlegt, werden ihr die Dorfbewohner danken, hofft Sibel.

Das Drama, welches das türkisch-französische Filmemacher-Paar Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti inszeniert hat, entführt die Zuschauer in eine archaische Welt. Es wurde vor Ort in Kuşköy mit einer Besetzung aus professionellen Schauspielern und Laien gedreht. Sibel, die Außenseiterin, ist die einzige Frau im Dorf, die kein Kopftuch trägt. Ihre Behinderung gibt ihr eine gewisse Narrenfreiheit. Keine Frau aus dem Dorf geht allein in den Wald, aber Sibel ist eine mutige Jägerin. Ihre einzige Freundin ist die alte Narin, der sie Lebensmittel bringt. Sibel kümmert sich zuhause um den Haushalt, sie arbeitet fleißig auf den Feldern mit und sehnt sich so sehr nach Akzeptanz und einem freundlichen Wort. Dieses aber hört sie nur vom Vater. Selbst Fatma mag Sibel nicht, sie schämt sich ihretwegen.

Und doch wird gerade diese Geächtete den Dorfbewohnern, vor allem den Frauen, die Augen öffnen für die Zwänge, die ihnen die Regeln der Gemeinschaft auferlegen. Sibel schreckt nämlich im Wald einen jungen Mann in seinem Versteck auf, der vor dem Wehrdienst geflüchtet ist. Ali (Erkan Kolçak Köstendil) zieht bei dem Gerangel den Kürzeren und fällt in eine Grube, wobei er sich das Bein verletzt. Sibel kümmert sich um ihn, bringt ihn in einer Holzhütte unter. Ali wird gesucht, und zwar als Terrorist – womit der Film darauf hinweist, wie freigiebig die Türkei dieses Etikett verteilt. Die beiden Ausgestoßenen kommen sich näher und Sibel entdeckt zum ersten Mal, dass sie gerne eine Frau ist. Interessiert lauscht sie der Erzählung Narins über die Zeremonie am Brautfelsen, die einer Hochzeit vorangehen soll. Sie fragt den Vater, wer dieser junge Mann war, auf den Narin immer wartet.

Die Wahrheit über Narins Schicksal aber wird erst später verraten, wodurch der Film einen schönen Spannungsbogen erhält. Es stellt sich heraus, dass das Dorf das Böse, das einst geschah, verdrängt hat und der ominöse Wolf wie im Märchen eine Metapher für die Gewalt ist, die im Menschen schlummert. Sibels Abenteuer im Wald bleibt den Sittenwächterinnen des Dorfs nicht lange verborgen. Nun wird es auch für die arme Fatma schwer, einen Mann zu finden.

Eigentlich ist Sibel von Anfang an emanzipiert – nur ihr Umfeld muss es noch werden und sich an ihr ein Beispiel nehmen. Vor allem muss der eigene Vater Stellung beziehen im sich zuspitzenden Konflikt mit der Dorfgemeinschaft. Der Vater macht zunächst einen schrecklich autoritären Eindruck, wütend kommandiert er seine Töchter herum und duldet keine Widerworte. Damit entspricht er dem Klischee eines türkischen Patriarchen vom Lande. Doch während des Dramas, das Sibel ins Rollen bringt, zeigt er neben wachsender Unsicherheit auch fürsorgliche, liebevolle Züge, für die er keine Worte findet.

Immer wieder folgt der Film seiner stummen Heldin hinaus in den Wald, der ihr Revier ist. Am Morgen liegen Nebelschwaden über den Tälern, die von grünen Bergketten gesäumt sind. Der Wald hat etwas Anheimelndes, trotz der Gefahren, die dort lauern mögen. Sibel fühlt sich dort frei, lebendig, als ganzer Mensch. Diese Kraft, vor der sich die traditionelle Gemeinschaft so fürchtet, trägt sie irgendwann auch hinein ins Dorf. Die schnörkellose, verknappte Erzählweise passt gut zur archaischen Anmutung der Handlung und des Schauplatzes sowie zu den märchenhaften Bezügen. Das Ergebnis ist ein reizvolles filmisches Plädoyer für den Einzug der Frauenemanzipation auch ins hinterste türkische Dorf.

Sibel (2018)

Sibel ist 25 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater und ihrer Schwester in einem abgelegenen Bergdorf am Schwarzen Meer in der Türkei. Sie ist stumm, aber kann dank einer in der Region verbreiteten Pfeifsprache kommunizieren. Von den Dorfbewohnern ausgeschlossen, folgt Sibel insgeheim einem Wolf, der sich im nahen Wald herumtreiben soll und der Gegenstand der Fantasien und Ängste der Frauen im Dorf ist. Bei einer ihrer Streifzüge trifft Sibel auf einen verwundeten Flüchtling. Bedrohlich und verletzlich zugleich, sieht der Mann sie mit ganz anderen Augen als die anderen.

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