Herbst

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Der Trost der Natur

Geplatzte Hoffnungen, ein verpfuschtes Leben – diesen Gefühlen konnte kaum ein anderer Künstler eine solche Schönheit entlocken wie der Dramatiker Anton Tschechow. Aber auch im Kino hat die Ästhetik der Melancholie ihre Meister, man denke nur an Ingmar Bergman oder Andrej Tarkowski. Mit einem erstaunlichen Langfilmdebüt knüpft Regisseur Özcan Alper an diese Tradition an. Ein weiterer Beweis für die neu erwachte Kraft des türkischen Autorenfilms.
Herbst / Sonbahar ist in den vergangenen eineinhalb Jahren auf fast 70 Festivals gelaufen und gewann insgesamt 31 Preise, darunter den Art & Essai-Preis 2008 in Locarno. Das kommt nicht von ungefähr. Denn der Nachwuchsregisseur (Jahrgang 1975) findet für das Schicksal eines politischen Ex-Häftlings eine unverbrauchte Bildsprache von eindringlicher Energie. Die eindrucksvolle Berglandschaft an der türkisch-georgischen Grenze spielt ebenso eine Hauptrolle in dem Film wie das Tosen des Meeres und die Jahreszeit, die mit gutem Grund titelgebend auftritt.

Es ist Herbst in der Natur und Herbst im Leben, als Yusuf (Onur Saylak) nach zehn Jahren aus einem Hochsicherheits-Politgefängnis entlassen wird. Warum der Ex-Student dort so lange eingesperrt war, darüber erfahren wir wenig. Nur, dass er sich als militanter Sozialist Anfang der 1990er Jahre Straßenschlachten mit dem autoritären Staatsapparat lieferte. Und dass er sich an den Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen beteiligte. Dabei setzte er seine Gesundheit derart aufs Spiel, dass er im Jahr 2000 vorzeitig entlassen wird. Ein Todgeweihter in einer Gesellschaft, die sich in der Zwischenzeit deutlich liberalisiert hat.

Yusuf kehrt zurück in das Bergdorf seiner Kindheit und Jugend, wo die Mutter sehnsüchtig auf ihn wartet. Doch keine Fürsorge auf dieser Welt kann den jungen Mann retten, nicht die der geduldigen Mama, auch nicht die des Jugendfreundes und nicht einmal die der geheimnisvollen Eka (Megi Kobaladze), mit der ihn eine zukunftslose Zärtlichkeit verbindet.

Einmal sieht das Liebespaar, jeder für sich an getrennten Orten, Tschechows Stück Onkel Wanja im Fernsehen. In einer der letzten Szenen sinniert Wanjas Nichte Sonja darüber, dass die beiden ihr Leben eigentlich hinter sich haben, aber trotzdem weitermachen müssen, immer weiter arbeiten in einer sinnlosen Fron. So ähnlich ergeht es Yusuf und Eka. Auch sie sind irgendwie nicht mehr von dieser Welt, selbst wenn sie äußerlich noch leidlich funktionieren. Sie haben keinen Draht mehr zu den Menschen. Nur in der Natur, so scheint es, finden sie Trost, in langen Blicken hinaus auf die Berge oder aufs Meer. Mit ihr können sie eine Verbindung herstellen, Resonanz aufbauen. Etwa in den berührenden Szenen, in denen wir Yusuf vor dem Holzhaus seiner Mutter auf einer Bank schlafen sehen – am hellen Tag. Im engen Zimmer der Nacht plagen den Ex-Häftling Albträume. Dann bleibt er stundenlang wach, bis ihn endlich frühmorgens draußen auf der harten Bank das Flüstern des erwachenden Tales einlullt.

Es sind solche Naturbilder, die die Faszination dieses Films ausmachen. Statt der Dramatik einer äußeren Handlung gliedern die Seelenlandschaften die Geschichte – nicht in einem linearen Fortschreiten, sondern in kreisenden Bewegungen. Der Herbst zeigt sich dabei von seiner doppelten Seite. Mit seinen Regengüssen verweist er auf den kommenden Winter – und damit auf den Tod. Aber zuvor lässt er das Leben noch einmal in seiner ganzen Pracht leuchten. Özcan Alper entwickelt dafür einen bemerkenswerten Rhythmus, der dem Leiden an einem zerstörten Leben die Freude an den kurzen Glücksmomenten entgegenstellt. Es ist die Trauerarbeit des Abschiednehmens, die dem Helden da abverlangt wird. Die ist einerseits bitter. Aber andererseits — wie bei Tschechow — zum Sterben schön.

Herbst

Der Student Yusuf hat sich in den 90er Jahren für den Sozialismus in der Türkei eingesetzt und wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Als er aus der Haft entlassen wird, begibt er sich auf die Reise in sein Heimatdorf in der Nähe der Grenze zu Georgien.Geplatzte Hoffnungen, ein verpfuschtes Leben – diesen Gefühlen konnte kaum ein anderer Künstler eine solche Schönheit entlocken wie der Dramatiker Anton Tschechow.
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Meinungen

Bennu · 08.11.2009

Herbst ist ein sehr leiser Film. Manchmal fällt es schwer sich in das Geschehen hineinzuversetzen. Dann tauchen immer wieder die traurig schönen Bilder und die wunderbaren Darsteller auf und das Herz wird einem erwärmt. Eine sich sorgende Mutter ist doch überall gleich und erwärmt uns das Herz mitten im Herbst. Onur Saylaks Körpersprache und Mimik sprechen Bände, die kargen Bilder und wenigen Worte werden durch Saylaks Tiefe in der Darstellung des Yusufs mehr als wett gemacht.