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Das Abrutschen ins Prekariat und noch viel weiter nach unten: „Reise nach Jerusalem“ zeigt schmerzhaft authentisch, zugespitzt kondensiert, absurd verifiziert das Leiden einer bestens ausgebildeten jungen Frau, die es nicht schafft. Denn die Verhältnisse, sie sind halt nicht so.

Reise nach Jerusalem (2018)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Hoffnung stirbt zuletzt, nach langer, schwerer Krankheit

Man muss heutzutage ja nicht nur zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Man muss immer auch am falschesten Ort und zur falschesten Zeit den Eindruck erwecken, dass alles genau richtig ist und sowieso super läuft. Weil nur Erfolg Erfolg gebiert. Und nur Optimismus einen weiterbringt. Und man es sich sowieso nicht leisten kann, als Verlierer dazustehen, selbst, wenn man sich tatsächlich überhaupt nichts mehr leisten kann.

In ihrem stilsicheren, klarsichtigen, vollkommen konsequenten Spielfilmdebüt Reise nach Jerusalem lässt Lucia Chiarla zusammen mit ihrem Kameramann Ralf Noack die Bildcadrage immer ein wenig falsch stehen: Gerne zeigt die Kamera ein Stück weit zu hoch, da ist noch viel Luft nach oben; metaphorisch gesehen ist das die Luft, die die Protagonistin erdrückt und ihr das Atmen mehr und mehr erschwert. Denn Alice, um die sich hier alles dreht, bis einem schwindlig wird, befindet sich keinesfalls im Wunderland. Sie ist 39, Single, freie Redakteurin – letzteres wäre sie zumindest gerne, wenn sie Aufträge hätte. Sie krebst durchs Prekariat der bestens Ausgebildeten, die nie einen Fuß auf die Erde bekommen, weil es da unten schon wimmelt von ähnlich Ausgegrenzten, von Tagelöhnern, von Ausgebeuteten, die versuchen, sich irgendwie was zusammenzuverdienen.

Freunde werden zu Bekannten und dann zu alten Bekannten. Die Münzen im Geldbeutel sind irgendwann nur noch rot, und die Kekse, die dringend die Nerven beruhigen sollen, müssen an der Ladenkasse zurückgelassen werden. Sie finden sich dann später in den Händen eines offensichtlich besser betuchten kleinen Mädchens. Der Wecker klingelt um 7 Uhr, dann geht es los mit der Arbeitssuche. Und irgendwann klingelt er um 9. Und irgendwann um 11. Weil eh alles wurscht ist. Ein Flüchtigkeitsfehler in einer Bewerbung bringt die Arbeitsagentur auf eine super Idee: Bewerbungstraining. Dann ist Alice raus aus der Statistik und tut mal was. Vernünftig? Nein, eine neue Stufe der Demütigung. Und Anlass, Hartz IV zu kürzen. Die Eltern haben das Geld auf dem Sparbuch der Oma, das Alice zusteht, für ein Wohnmobil rausgehauen, das Erbe war eh für Alices Hochzeit gedacht, und ein Freund ist ja wohl nicht in Sicht. Eine Bekannte (früher war’s eine Freundin …) bringt Kontakt zu absurden Jobs bei der Marktforschung, Bewertungen von Küchenpapier oder Rotwein bringen Benzingutscheine ein. Für Alice, ohne Auto.

Die Hoffnung stirbt zuletzt – und vorher röchelt sie in langer, verzweifelter Agonie auf elendige Weise dahin. Eva Löbau ist die perfekte Besetzung für diese Frau, die in der Scheiße steckt. Die sich zuerst noch selbst in die Tasche lügt, dann nur noch den anderen, und die sehenden Auges und ohne jede Handlungsmöglichkeit immer weiter abrutscht. Löbau spielt so grandios, dass ihr Versinken stets in neuen Facetten, in weiterer Eskalation von statten geht: Erniedrigung und Selbst-Demütigung gehen Hand in Hand. Sie wird langsam verschluckt von der Gesellschaft, in der man das Glück schmieden kann, wie man will: Es wird immer verbogen bleiben. Die Gesellschaft setzt auf Erfolg, und wo der Erfolg ausbleibt, das kracht dann im Moment hysterischer Selbsterkenntnis auch noch der halbe Zahn ab. Grade, wenn man die Krankenversicherung nicht mehr bezahlen kann.

Schon in ihrem ganz frühen Film Der Wald vor lauter Bäumen von Maren Ade, im Jahr 2003, hat Löbau eine solche Figur gespielt, die sich selbst im Weg steht und an ihrem Umfeld zerbricht, die sich anpassen will und sich genau deshalb ins Abseits treibt. Seither ist nichts besser geworden. Nur, dass Eva Löbau jetzt keine Berufsanfängerin mehr spielt. Sondern eine Frau, die zwischendrin steckt, zwischen allen Stühlen – und dann hat man bei der Reise nach Jerusalem halt trotzdem verloren.

Das ist bestürzend, das ist ab und an auch sehr komisch, das ist vor allem alles nur allzu wahr. Und wenn das Presseheft verkündet, dass der Film „ohne Produktionsförderung oder Beteiligung eines Senders mit einem geringen Budget – aber mit viel Eigenengagement – realisiert und hergestellt“ wurde – dann kann man sich die Selbstausbeutung vorstellen, die hinter dem Projekt steckt. Und ahnt, dass Lucia Chiarla eine Menge von sich selbst erzählt.

Reise nach Jerusalem (2018)

Alice ist arbeitslos, erträgt die Demütigungen des Alltags nicht mehr und bricht die Maßnahme des Jobcenters ab. Trotzig hält sie sich mit Benzingutscheinen über Wasser, die sie durch Jobs bei Marktforschungsinstituten erhält – und versucht, durch diesen absurden Tauschhandel den Faden ihres Lebens wieder aufzunehmen.

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Meinungen

Suse · 18.11.2018

Ohne große Information in diesen Film geraten. Ja, ihm fehlt zu viel, als dass die zwei Stunden nicht als ärgerlich zu bezeichnen wären. Keine sympathische Figur rund um Alice. Trostlos, beziehungslos, freudlos - ohne Spannungsbogen, mit Längen und unrealistisch, weil eine so kommunikative Frau mit der Intelligenz wie Alice auf bessere, andere Ideen kommen könnte, als sich ewig in der gleichen Schleife mit den falschen Freunden die Reise nach Jerusalem zu wiederholen.

Linkkumpanei · 28.08.2018

Seit Langem wieder ein Film der überzeugt - und von der ersten bis zur letzten Szene fesselt. Nicht nur die Hauptdarstellerin ist großartig, auch die Handlung besticht durch ihre Ehrlichkeit gegenüber dem Thema - auch, weil am Schluss eben nicht alles wieder gut ist, sondern offen bleibt was weiter passert.
Gut auch deshalb, weil die Regisseurin es schafft, die Zuschauer trotz der ernsten Thematik zum Lachen zu bringen.

Mephisto · 25.08.2018

Dem Film fehlt leider so ziemlich alles: die Geschichte, die Dramaturgie, die Personen.
Episode wird an Episode gereiht, man verliert recht bald das Interesse an der Hauptfigur.
Einzig die Hauptdarstellerin Eva Löbau weiß zu überzeugen, das reicht aber bei weitem nicht für einen Zweistundenfilm