First They Killed My Father

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Kindheit in Trance

Der kindliche Blick versteht die Dinge nicht, sondern er erkundet sie voll wacher Neugier, schaut auf all das Unbekannte und Magische in einer Welt, die noch nicht die der Erwachsenen ist. Es gehört zu den schlimmsten Verbrechen, einem Menschen die Kindheit zu nehmen. Angelina Jolies Verfilmung des gleichnamigen autobiographischen Romans der kambodschanischen Schriftstellerin Loung Ung zeigt genau das: Eine Welt der Gewalt aus den Augen eines kleinen Mädchens, dessen Kindheit geraubt wurde. Nach In the Land of Blood and Honey (2011) und Unbroken (2014) ist dies der dritte Film der Regisseurin, der über ein einzelnes Schicksal den Blick auf die Geschichte richtet. Dabei gelingt ihr mit Der weite Weg der Hoffnung ein einzigartig berührender Film über das Überleben – und dieses Mal sogar fast ohne unnötiges Pathos.
Loung Ung (Sareum Srey Moch) wächst in den 1970ern in den gehobenen Verhältnissen einer Beamtenfamilie in Phnom Penh auf. Als eines Tages Militärwagen durch die Straßen rollen, muss ihre Familie die wenigen Dinge einpacken, die sie greifen kann, bevor Loung Ung mit ihren Eltern und Geschwistern aus der Stadt evakuiert wird. Die Roten Khmer schicken Ungs Familie in ein Arbeitslager, um sie dort unter Gewalt und mangelnder Versorgung auf dem Feld arbeiten zu lassen. Als ihr Vater (Phoeung Kompheak) ermordet wird, flieht Loung Ung aus dem Lager und es beginnt ihre lange Flucht durch den kambodschanischen Dschungel, durch Ausbildungslager zur Kindersoldatin, durch Minenfelder und durch ein Leben, in dem Albträume und Wirklichkeit kaum noch zu unterscheiden sind.

Der Film wäre allein schon aufgrund der außergewöhnlichen Lebensgeschichte einzigartig, die gemeinsam von Loung Ung und Jolie für das Drehbuch adaptiert wurde. Mehr noch gelingt es aber, nicht bloß eine berührende Geschichte mit den Mitteln des Hollywood-Kinos nachzuerzählen, sondern einen eigenen visuellen Stil für die persönlichen Erinnerungen zu finden. Anthony Dod Mantles Kamera weicht kaum von der Seite der Figuren, gleitet immer wieder in die Perspektive des Mädchens, das mit ihrer Umwelt nicht mehr zurechtkommt und deren Ereignisse sie nicht verstehen kann. Fast unbemerkt wechselt die Perspektive des Films zwischen dem Blick des Mädchens und einem seltsam distanzierten Blick, der immer wieder kaum spürbar entrückt, kaum sichtbar, aber doch so wirksam anders ist. An der Seite von Loung Ung geschehen die Dinge des Films und es ist kaum möglich, sie zu ordnen, geschweige denn, ihnen die Struktur einer klassischen Narration zu geben. Immer mehr verschwindet der Glanz aus den Augen des Kindes und auch der Film verliert seinen Glanz, die Farben werden stumpf, die Welt verflacht auf den nächsten Schritt und immer nur den nächsten Schritt, der irgendwann vielleicht in die Freiheit führt.

Es ist der Blick eines Kindes, dessen Kindheit von einem Tag auf den anderen verschwindet. Nicht, weil Loung Ung plötzlich erwachsen wird, sondern weil ihre Welt von einem Tag auf den anderen keine Kindheit mehr zulässt. Keine Träume, kein Individuum in der schwarz-roten Masse der Einheitswesen eines neuen, schrecklichen Regimes. In diesem Blick des Kindes ohne Kindheit, gefangen im Zustand einer schrecklichen Trance, zeigt Der weite Weg der Hoffnung die Gewaltsamkeit und das unvorstellbare Leid in Kambodscha unter den Roten Khmer.

Es ist schade, dass der Film trotz kaum noch erträglicher Steigerung schließlich doch sein Bedürfnis nach einem Pathos der Erlösung nicht unterdrücken kann. Nach einem ergreifend bedrückenden Abschluss entlässt er seine Zuschauer nicht, ohne zuvor doch noch die Wärme zurückzugeben, die Bild für Bild aus der Welt gedrängt wurde. Das Mädchen ist nicht mehr die hilflose Figur in einer Welt der Gewalt, sondern die Schriftstellerin Loung Ung, die das Glück hatte, dem Horror zu entkommen und den Ereignissen einen Sinn und ein Ziel zu verleihen. Der weite Weg der Hoffnung hätte hier radikaler verfolgen können, was er bis zur letzten Sequenz beinahe durchgehalten hätte und was ihn dennoch zu einem außergewöhnlich bewegenden Film macht: In den Erinnerungen eines Mädchens ein Bild für das Leiden eines ganzen Landes zu finden, die schrecklichsten Verbrechen in der Figur eines Kindes, das kein Kind mehr sein kann, zu kristallisieren – weil alles zerstört wird, was diese so simple und unhintergehbare Bedingung der Freiheit ist: Kind sein zu dürfen.

First They Killed My Father

Der kindliche Blick versteht die Dinge nicht, sondern er erkundet sie voll wacher Neugier, schaut auf all das Unbekannte und Magische in einer Welt, die noch nicht die der Erwachsenen ist. Es gehört zu den schlimmsten Verbrechen, einem Menschen die Kindheit zu nehmen. Angelina Jolies Verfilmung des gleichnamigen autobiographischen Romans der kambodschanischen Schriftstellerin Loung Ung zeigt genau das:
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