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Eine Truppe junger Tänzer zieht sich für ein Probenwochenende in ein abgelegenes Haus zurück. Die Abschlussparty am letzten Abend läuft völlig aus dem Ruder, denn irgendjemand hat LSD in die Sangria gemischt.

Climax (2018)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Ekstatischer Totentanz

Gaspar Noé ist wieder da. Nachdem er zuletzt mit seiner Amour fou-Dreiecksgeschichte Love weite Teile der Kritik eher enttäuschte, liefert er mit seinem neuen Werk Climax buchstäblich einen Höhepunkt seines bisherigen filmischen Schaffens ab: einen zuckenden, pulsierenden, enthemmt-entgrenzten Trip über die Macht der Ekstase und die Schattenseiten des Dionysischen.

Das deutet sich schon zum Beginn des Films an: Der Fernseher, auf dem wir die Casting-Aufnahmen der Tänzer sehen und diese so vorgestellt bekommen, ist gerahmt von Büchern und DVDs, deren Titel alleine einiges über den Charakter desjenigen oder derjenigen verraten, der oder die diese Truppe leiten wird: Salvador Dalís Ein andalusischer Hund und Pier Paolo Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom ebenso wie Bücher über Psychoanalyse. Zudem verstört die Luftaufnahme einer jungen Frau, die leicht bekleidet über ein verschneites Feld stolpert, sich in den Schnee wirft und dort herumwälzt. Offensichtlich blutet sie, denn ihre Bewegungen färben das Weiß um sie herum teilweise rot.

Dann springt der Film mitten hinein in den letzten Abend und die Abschlussparty: Treibende House- und Techno-Beats, für die der DJ Daddy (DJ Kiddy Smile) sorgt, putschen die ausgelassene Stimmung nach dem erfolgreichen Ende der Proben munter einem vorerst noch imaginären Höhepunkt entgegen, immer wieder lösen sich aus der pulsierenden Menschenmasse einzelne Tänzerinnen und Tänzer und zeigen in immer gewagteren Soli ihr Können, während sie von den anderen angefeuert und tänzerisch begleitet werden. Die ruhelos umherschweifende Kamera greift immer wieder eine der Personen ins Visier, verfolgt sie bei ihren Bewegungen und ihren Pausen, bei der Interaktion mit anderen und in den Gesprächen, bei denen es fast immer um Beziehungen geht – und noch viel häufiger sehr unverblümt um Sex.

Man spürt den Beat, riecht den Schweiß, meint förmlich das Adrenalin und die Pheromone mit den Händen greifen zu können, bis sich ganz allmählich die Atmosphäre, die Stimmung und damit auch das Gefühl des Zuschauers verändern. Einer Tänzerin wird schlecht, ein anderer Tänzer, der bereits vorher durch Machosprüche aufgefallen ist, wird immer fordernder, andere bewegen sich apathisch und alleine auf dem Dancefloor. Aus dem Kollektiv ist eine Ansammlung isolierter Individuen geworden, die zusehends unfähiger wird, miteinander auf angemessene Weise zu kommunizieren und zu interagieren. Bis ein Verdacht in den Anwesenden aufkeimt: Da alle im Raum zumindest scheinbar ähnliche Symptome zeigen, ist es sehr wahrscheinlich, dass jemand die Sangria, die auf dem Buffet stand, mit einer Droge versetzt hat – nur wer? Omar (Adrien Sissoko) vielleicht, der junge Muslim, der keinen Alkohol anrührt? Oder Emmanuelle (Claude Gajan Maull), die die Sangria beigesteuert und ihren kleinen Sohn mit zu den Proben gebracht hat? Welche Rolle spielt die charismatische, aber auch reichlich kaputte Selva (Sofia Boutella), die die Gruppe allem Anschein nach leitet und auf diese Weise vielleicht etwas Bestimmtes aus der Gruppe herausholen wollte?

So mysteriös die genauen Umstände dessen sind, was den kollektiven Rausch auch verursacht hat, so verheerend sind die Folgen: Aus Ängsten wird Paranoia, die unter anderem dazu führt, dass Emmanuelle ihren kleinen Sohn in einen finsteren Keller sperrt, um ihn vor den Anderen zu beschützen, aus Geilheit wird inzestuöse Begierde eines Geschwisterpaares, aus unterschwelliger Aggression offene Gewalt und Niedertracht – bis am nächsten Morgen Polizisten am Ort des Geschehens eintreffen und das ganze Ausmaß entdecken. Mit den Tänzerinnen und Tänzern scheint auch die Kamera jeden Halt zu verlieren, fast ohne Schnitt folgt sie den einzelnen Personen durch die dunklen Gänge des zunehmend gespenstischer werdenden Gebäudes, dreht sich auf den Kopf, kippt und taumelt, stolpert, rafft sich wieder auf und tanzt, gerade so, als wäre sie selbst entgrenzt, berauscht, in höchster Erregung und Ekstase.

Gaspar Noé bezieht sich in seinen neuen Film auf ein wahres Ereignis, das sich im Jahre 1996 ereignete, doch das bildet nur den Ausgangspunkt für einen wilden filmischen Exzess, der kaum ein entwickeltes Drehbuch und noch weniger sorgfältige Dialoge benötigt, um dennoch zu fesseln und das Publikum mitzureißen. Ein 95-minütiger House-Track, nach dem einem schwindelig im Kopf und mulmig in den Beinen ist – aber weiß Gott, was für eine Erfahrung, was für ein Rausch, was für ein Höllenritt.

Climax (2018)

20 junge Tänzer*innen ziehen sich an einen abgelegenen Ort zurück, um dort gemeinsam im Verlauf von drei Tagen ein neues Stück einzustudieren. Nach getaner Arbeit wollen sie am letzten Abend eine Party feiern, doch die läuft völlig aus dem Ruder und wird immer ekstatischer. Offensichtlich hat sie jemand unter Drogen gesetzt — und so entschweben einige in ein Paradies, während andere die Hölle auf Erden erfahren… 

 

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