Pio (2017)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Zwischen Tradition und jugendlichem Aufbegehren

Bewachsene Berghänge, eine raue Landschaft, ein wildes weißes Pferd, ein Mann, der langsam auf dieses Pferd zugeht. Der Mann ist ein Rom und er zieht mit seiner Familie und Planwagen durch die Gegend. Dann springt Jonas Carpignanos A Ciambra in der Zeit. Mittlerweile leben die Roma in einer Häusersiedlung in Kalabrien im Süden Italiens, vier Generationen unter einem Dach.

Hier wohnt auch der 14-jährige Pio (Pio Amato), der gerne schon als Erwachsener angesehen werden würde. Also raucht er, erklärt den kleineren Kindern, wie es läuft, versucht, ein Mofa in Gang zu bringen, und hängt sich vor allem an seinen größeren Bruder Cosimo (Damiano Amato), der mit Autodiebstählen sein Geld verdient. Denn das Ansehen in dieser Gemeinschaft hängt sehr davon ab, ob man für seine Familie sorgen kann und von Älteren respektiert wird.

Dank der Handkamera von Tim Curtin taucht der Film schnell in diesen Ort und diese Gemeinschaft ein. Man begegnet Menschen, erkennt Verwandtschaften, Beziehungen und Machtverhältnisse. Dabei steht Pio stets im Mittelpunkt, mit ihm bewegt man sich durch diesen Ort, der bereits Schauplatz von Carpignanos vorherigem Langfilm
Mediterranea war, in dem er in Gioia Tauro zwei afrikanischen Einwanderern auf ihren Wegen folgte. Bereits während der Dreharbeiten zu dem Kurzfilm A Chjàna, aus dem später Mediterranea wurde, lernte er die Siedlung Ciambra kennen. Damals wurde der Crew der Fiat Panda gestohlen, in dem die gesamte Ausrüstung war – und in Gioia Tauro wendet man sich in so einem Fall zunächst an die Roma. So gelangte Carpignano nach Ciambra, erhielt drei Tage später das Auto zurück und beschloss, dort einen Film zu drehen.

Mit A Ciambra taucht er nun tief in die Strukturen und das Leben in dieser Siedlung ein. Er zeigt Alltäglichkeiten, zu denen die regelmäßigen Razzien der Polizei ebenso gehören wie das Gewinnen von Kupfer und der Besuch der örtlichen Mafia. In diesen Beobachtungen entfaltet sich das Machtverhältnis in diesem Ort – zwischen legalen und illegalen Kräften, bei denen die alteingesessenen Mafiosi klar an erster Stelle stehen. Pios Großvater sieht sie sehr viel höher an als die afrikanischen Einwanderer – aber er gehört auch einer anderen Generation an. Pio ist ein Kind des modernen Kalabriens, für ihn gehören die Einwanderer aus Ghana und Nigeria genauso in diese Welt wie die Italiener. Insbesondere mit Ayiva (Koudous Seihon) aus Burkina Faso verbindet ihn eine enge Beziehung, die nach der Verhaftung seines Bruders immer wichtiger für ihn wird.

Auch Ayiva war bereits in Mediterranea zu sehen und zusammen mit dem Kurzfilm, der A Ciambra vorausging, bilden die vier Filme einen Kosmos, der das Leben in Gioia Tauro zeigt, indem Laiendarsteller vor der Kamera agieren und Carpignano mit seinem Filmteam in Häusern und an Orten dreht, die dort tatsächlich sind. Dennoch ist A Ciambra keine Fortsetzung oder lediglich ein weiterer Beitrag, sondern steht mühelos für sich selbst. Der Film erzählt von dem Aufwachsen in dieser Gesellschaft und Gemeinschaft, er erzählt von einem 14-Jährigen, der es kaum erwarten kann, erwachsen zu werden, und zu spät bemerkt, welche harten Entscheidungen er dann treffen muss. Denn letztlich ist A Ciambra auch ein Beispiel dafür, was Coming of Age bedeuten kann, wenn man mit Vorurteilen, Verbrechen und Armut aufwächst. Dabei steht Jonas Carpignano in der Tradition des italienischen Neorealismus und vermag insbesondere durch seine Arbeit mit den superben Laiendarstellern authentisch und eindringlich von einer Welt zu erzählen, die nur auf den ersten Blick fremd erscheint. Hier zeigt sich die Stärke seines sozialrealistischen Ansatzes, hier zeigt sich aber auch, dass er insbesondere mit Pio Amaro einen besonderen Darsteller gefunden hat.

Jedoch belässt es Carpignano nicht beim Realismus, sondern unterlegt seine Bilder immer wieder mit lautem Italo-Pop. Diese Musik passt zu diesem Film, sie wird überall auf der Welt gehört, sie verbindet Menschen – und egal, woher man kommt, sind es Klänge, die jeder kennt. Sie fügen sich hervorragend zu dieser Geschichte, in der auch ein Generationswandel in der Gemeinschaft der Roma vollzogen wird. Pios Großvater ist der Mann vom Anfang des Films, der noch einer Zeit entstammt, in der die Roma umherzogen und frei waren. Damals gab es keine Mafiosi, die ihnen sagten, wo sie keine Autos stehlen dürfen. Keine Polizisten, die Razzien durchführten. Keine Kabel, mit denen Strom geklaut wurde und überbordende Rechnungen. Stattdessen gab es – zumindest in der Erinnerung des Großvaters – Freiheit. In dem stärksten Moment des Films durchbricht Carpignano den Sozialrealismus seines Films und lässt Pio in einer Einstellung voller Poesie den Großvater mit dem Pferd vom Anfang sehen. Gewissermaßen weisen sie ihm den Weg, sie erinnern ihn an seine Herkunft, aber auch an die Traditionen und an Freiheiten. Deshalb versteht man Ende auch, welche Entscheidung Pio treffen muss.
 

Pio (2017)

Bewachsene Berghänge, eine raue Landschaft, ein wildes weißes Pferd, ein Mann, der langsam auf dieses Pferd zugeht. Der Mann ist ein Rom und er zieht mit seiner Familie und Planwagen durch die Gegend. Dann springt Jonas Carpignanos „A Ciambra“ in der Zeit. Mittlerweile leben die Roma in einer Häusersiedlung in Kalabrien im Süden Italiens, vier Generationen unter einem Dach.

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