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Eine Schriftstellerin fragt sich, wie das Leben am Rand der Gesellschaft ausschaut und probiert es einfach aus. Juliette Binoches neuer Film nach einer Vorlage von Florence Aubenas gehört vor allem den Menschen um sie herum.

Wie im echten Leben (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die zwei Gesichter der Madame Winckler

Juliette Binoche hat im Verlauf ihrer nunmehr fast vierzig Jahre andauernden Karriere im Grunde alles gespielt. In ihrem neuen Film spielt sie eine Putzfrau, und auch diese Rolle steht der 1964 geborenen Französin gut zu Gesicht. Doch der Schein trügt, denn hinter dem ungeschminkten Antlitz von Binoches Figur verbirgt sich noch ein anderes.

Binoche ist Marianne Winckler, eine geschiedene Frau, die vor den Trümmern ihrer Ehe steht. Im Betrieb ihres Mannes erledigte sie die Buchhaltung, wofür ihre bessere Hälfte sie allerdings nicht bezahlte. Ohne Geld und weit weg von ihrem alten Leben fängt Marianne in Caen am Ärmelkanal ganz von vorn an. Die Dame vom Amt empfiehlt ihr, nach einer so langen Pause vom Berufsleben erstmal als Putzkraft in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Also schrubbt Marianne fortan Toiletten, wischt Böden und lernt während einer Arbeitsmaßnahme eine Reinigungsmaschine mit dem Spitznamen „das Biest“ zu bändigen.

Die Arbeit ist hart, aber nicht humorlos. Denn die Reinigungskräfte halten zusammen. Wenn sie schon keinen menschenwürdigen Lohn erhalten, dann haben sie wenigstens ihren Spaß. Ein gemeinsamer Kaffee und eine Zigarette im Anschluss an die Nachtschicht, ein Abstecher an den Strand, selbstgemixte Cocktails auf dem Parkplatz einer Bowlinghalle, weil die Getränke drinnen zu teuer sind – Marianne und ihre Kolleginnen Marilou (Léa Carne) und Christèle (Hélène Lambert) erfreuen sich an den kleinen Freuden des Lebens. Und der arbeitssuchende Cédric (Didier Pupin), der auch immer auf der Suche nach einer Frau an seiner Seite ist, flirtet heftig mit ihr.

All das kommentiert Marianne aus dem Off. Die eingestreuten Sätze hören sich verdächtig literarisch an. Als Publikum ahnt man früh und weiß es lange vor Christèle & Co.: Marianne hat die Geschichte um ihre gescheiterte Ehe nur erfunden. In Wahrheit ist sie eine Schriftstellerin, die für ihr neues Buch recherchiert, um nicht länger nur über prekäre Arbeitsverhältnisse zu reden, sondern diese auch zu verstehen. Sie wolle sie am eigenen Leib erfahren und diese Erfahrungen zu Papier bringen, um „die Unsichtbaren sichtbar zu machen“, sagt sie an einer Stelle im Film.

Ouistreham, wie der Film im Original heißt, basiert auf einer wahren Geschichte, den Recherchen der Journalistin Florence Aubenas, die sie zu ihrem 276-seitigen Essay Le Quai de Ouistreham verarbeitete. Seit dem Erscheinen im Jahr 2010 war das Interesse an einer Verfilmung groß. Doch erst die Hartnäckigkeit Juliette Binoches, die nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern den Film auch produziert hat, brachte Aubenas dazu, einer Adaption zuzustimmen. Einzige Bedingung: Die Journalistin wünschte sich Emmanuel Carrère als Drehbuchautor. Der schrieb jedoch gerade an einem Roman, stimmte aber dennoch zu, als Binoche ihn mit der Aussicht köderte, zusätzlich Regie zu führen.

Für Carrère war Binoche weitaus mehr als nur seine Hauptdarstellerin und Produzentin. „Juliette navigierte die Schauspieler mindestens so sehr wie ich, nicht indem sie ihnen Anweisungen gab, sondern durch die Art und Weise, wie sie mit ihnen agierte“, erinnert sich Carrère an den Castingprozess und die Dreharbeiten, die durchaus ungewöhnlich waren.

Um so viel Authentizität wie möglich zu erzielen, spielen neben Binoche ausschließlich Laien, die mehr oder minder sich selbst darstellen. Hélène Lambert ist auch im echten Leben eine alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Ihre Filmfigur Christèle schiebt rund um die Uhr Schichten auf den Fährschiffen in Ouistreham, dem Handelshafen von Caen, wo durch ihre Vermittlung schließlich auch Marianne anheuert und schnell an ihre körperlichen Grenzen gerät. Wie Marianne im Film mit Christèle erst warm werden muss, weil diese einen Schutzmauer um sich errichtet hat, musste auch Binoche vor den Dreharbeiten erst einmal Lamberts Vertrauen gewinnen. Das Ergebnis ist ein ungemein wahrhaftiger Film – der beiläufig auch davon erzählt, wer sich zu Hungerlöhnen abrackern muss: Frauen, Schwarze, Transpersonen.

Für die Figur der Marianne zeigt Binoche Verständnis. „Wo ist die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge? Ist die Lüge zulässig, die die Wahrheit erfasst?“, fragt sie in einem Interview zum Film. Vielleicht rührt ihr Verständnis daher, dass sie sich als Schauspielerin während der Recherchen zu ihren Rollen in ähnliche Situationen begibt. Vor den Dreharbeiten zu Leos Carax‘ Die Liebenden von Pont-Neuf (1991) lebte sie beispielsweise einige Zeit als Obdachlose, verrät sie im selben Interview.

Im Film haben nicht alle Verständnis dafür. Vor allem Christèle, der dieser Film gehört – mit ihr beginnt und endet dieses Drama nicht nur, ihre Darstellerin Hélène Lambert wird im Abspann auch als Erste genannt; Juliette Binoche folgt erst an fünfter Stelle –, bleibt unversöhnlich. Und das ist gut so. Ein Happy End hätte sich falsch angefühlt. Dafür sind die Unterschiede der zwei Welten, die hier aufeinanderprallen, dann doch zu groß. So echt Mariannes Gefühle für ihre Kolleg:innen auch waren, in deren Welt kann sie nicht mehr zurück. Am Ende schafft ihr Einblick aber nicht nur Verständnis, sondern führt womöglich auch zu einem Umdenken in Mariannes Welt. Es wäre dringend nötig.

Wie im echten Leben (2021)

Für ihr neuestes Buchprojekt geht Bestsellerautorin Marianne Winckler ungewöhnliche Wege: Um über prekäre Arbeitsbedingungen in Frankreich zu schreiben, nimmt sie eine Stelle als Reinigungskraft in der Normandie an, ohne ihre wahre Identität preiszugeben. Sie betritt eine Welt, in der jeder verdiente Euro zählt. Trotz misslicher Lage herrscht zwischen den Arbeitskolleginnen eine tiefe Solidarität und es dauert nicht lange, ehe sich Marianne mit der alleinerziehenden Mutter Christèle anfreundet. Doch was passiert, wenn die Wahrheit über Mariannes Absichten ans Licht kommt?

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